Der Alltags-Renner

Valencia - Mit einem Ford Focus auf die Rennstrecke? Auf die Idee kommt man angesichts des rundum vernünftigen und alltagstauglichen Kompakten nicht unbedingt spontan. Ganz anders schaut's aus, wenn es um den neuen RS geht, die sportliche Speerspitze aus Köln für den Rest der Welt – oder zumindest für 42 Länder dieser Erde. Dann macht so ein Ausflug in die automobile Unvernunft durchaus Spaß. Die AZ hat es ausprobiert.
Ein paar Klicks durchs Bordmenü, dann sind die Voraussetzungen perfekt: Fahrmodus-Schalter auf „Track“, per Taste im Lenkrad die Launch Control aktiviert. Ersten Gang rein, Vollgas bis über 5000 Umdrehungen, Kupplung schnalzen lassen wie in der ersten Fahrstunde. Aus der Startgasse schießt der RS innerhalb von 4,7 Sekunden mit 100 Sachen in die erste Kurve, dann geht es im dritten Gang zügig auf die nächste Herausforderung zu. Die per Tastendruck aktivierbare Rennabstimmung von Fahrwerk, Lenkung, ESP und Motorsteuerung lässt einen gemäßigten Drift durch die Kurven zu. Unglaublich, wie der Focus mit seinen Michelin-Rennpneus am Asphalt zu kleben scheint und jede zu übermütig angegangene Schikane locker wegsteckt. Vor Runde zu Runde wird die Fahrt zügiger, fühlt sich der Tester hinter dem beheizbaren Sportlenkrad wohler. Der Recaro-Sitz sorgt für maximalen Seitenhalt, das kurz und knackig zu schaltende Sechsganggetriebe passt perfekt zum explosiven Charakter des Motors, das Radio untermalt das Quietschen und Wimmern der Reifen und das Bollern und Sprotzen aus den zwei dicken, runden Auspuffendrohren mit harten Beats und satten Bässen.
Szenenwechsel: Wir haben das Normal-Programm aktiviert, schlängeln uns mit dem Focus durchs Großstadt-Gewühl. Rush-Hour, es ist voll und eng. Als hätte es den Vollgas-Exzess auf der Rennstrecke nie gegeben, zieht der RS seine Bahn. Er brummelt sonor, ruckt und zuckt auch bei untertouriger Fahrweise nicht, gibt den braven Alltagsbegleiter – und zwar enorm überzeugend. Man weiß ja: Man könnte, wenn man wollte. Oder dürfte . . . Fünf Türen, umklappbare Rückbank, 260 bis 1045 Liter Kofferraum: Mit dem Auto kann man auch die Schwiegermama zum Sonntagsausflug abholen.
Klar: Dem RS sieht man sein Potenzial durchaus an. Riesige Lufteinlässe für Kühler und Bremsen mit den entsprechende Spoilern vorne, ungewöhnlich geformter Dachheckspoiler und Diffusor hinten. Aber jedes Teil erfüllt seinen Zweck, versichert Projektleiter Tyrone Johnson, nichts ist nur zur Schau angeschraubt. Niedriger Luftwiderstand und null Auftrieb bei hohem Tempo waren die Entwicklungsziele. Und dabei geht es immerhin um maximal 266 km/h. Dass der Normverbrauch mit 7,7 Liter pro 100 Kilometer angegeben ist, ist schön. Realistisch ist aber ein zweistelliges Verbrauchsergebnis.
Der Blick unters Blech fördert interessante Details zu Tage: Der 2,3 Liter-Benziner bringt es auf 350 PS und ein maximales Drehmoment von 440, kurzfristig sogar 470 Nm. Die Kraft wird an einen ungewöhnlichen Allradantrieb weitergereicht, der durch zwei separate Kupplungen im Heck die Kraft je nach Fahrsituation in Millisekunden bis zu 100 Prozent an eines der Hinterräder weiterreichen kann. Das bedeutet maximal schnelles Herausbeschleunigen aus Kurven, sorgt für wenig Antriebseinflüsse in der Lenkung.
Braver Alltagsbegleiter mit enormen Reserven oder reinrassiges Renngerät für die abgesperrte Piste: Der Focus RS kann beides. 40 000 Euro ruft Ford für seinen Kompaktrenner mit den zwei Gesichtern auf. Das sind bei vergleichbarer Grundausstattung 1000 Euro mehr als beim „nur“ 300 PS starke Golf R. Und gute 17 000 Euro weniger als beim 367 PS starken Audi RS3. Fürs Ersparte könnte man sich ja gleich noch einen „normalen“ Focus holen . . .