Zadie Smith: ungeschönte Heimatkunde
Literarisch gesehen fängt das neue Jahr hochkarätig an. Nach siebenjähriger Pause hat die britische Autorie Zadie Smith, die vor 14 Jahren mit dem Roman „Zähne zeigen“ äußerst erfolgreich debütierte, endlich wieder ein großes Erzählwerk vorgelegt. In „NW“ begleitet die 38-jährige Autodidaktin vier Landsleute durch die Mitte ihres Lebens, in der sich für Erwachsene entscheidet, wohin die Reise auf Erden geht.
Wer in erster Linie eine packende Handlung erwartet, wird von Smiths Roman, der weniger zugänglich ist als die drei Vorgänger, vielleicht enttäuscht sein. Diesmal hat Smith die Geschichte episodisch angelegt, bruchstückhaft. Wer aber die sprachlichen Spielereien, experimentellen Elemente und medienkritischen Einschübe zu schätzen weiß, durch die sich ansatzweise schon die Romane „Der Autogrammhändler" (2003) und „Von der Schönheit“ (2006) auszeichneten, dem wird „NW“, von der „New York Times“ zu einem der zehn besten Romane des Jahres 2012 gekürt, gefallen.
Die beiden Buchstaben sind der Post-Code für North West London, das Arbeiterviertel Willesden, in dem die Autorin geboren wurde und in dem nun die fiktive Hochhaussiedlung Caldwell steht, in der die Protagonisten Leah, Keisha, Felix und Nathan aufwuchsen: „Fünf Häuser, verbunden durch Übergänge und Brücken und Treppenhäuser und Aufzüge, die man schon kurz nach dem Bau nicht mehr gefahrlos betreten konnte. Smith, Hobbes, Bentham, Locke, Russell.“
Das Lokalkolorit rund um die Kilburn High Road stammt also aus erster Hand, man hört förmlich das vielsprachige Stimmengewirr. Im Vordergrund stehen zwei Frauen um die Dreißig, die irischstämmige Leah Hanwell und ihre farbige Freundin Keisha Blake, Tochter von Jamaikanern. Sie begegneten sich im Kleinkindalter, als Keisha mit vier Jahren Leah im Freibad vor dem Ertrinken rettete.
Während Leah sich dem Vergnügen hingab und Drogen nahm, sog Keisha begierig Wissen auf, um zielstrebig eine Karriere als Anwältin in Angriff zu nehmen, in die sie mühelos die Geburt von zwei Kindern einbaute. Die Sozialarbeiterin Leah, verheiratet mit dem Friseur Michel, einer halb aus Algerien, halb aus Guadeloupe stammenden schwarzen Schönheit, verhindert hinter dem Rücken ihres Mannes eine Schwangerschaft. Sie will ihr kleines Glück zu zweit nicht gefährden.
Wenn Smith hier wieder mal ein multikulturelles Personal aufbietet, dann um ein möglichst realistisches Bild von dem Londoner Stadtteil zu geben, den sie von kindesbein an kennt: Sie ist die Tochter eines Models aus Jamaika und eines britischen Fotografen. Mit ihrem Mann, dem irischen Autor Nick Laird, hat die zeitweise als Dozentin und Kritikerin in New York arbeitende Autorin zwei Kinder. „Wenn ich schreibe, versuche ich, mein Dasein in der Welt auszudrücken“, bekannte Smith einmal in einem Essay.
Dazu gehören in diesem Roman, der im Hochsommer im berühmten Karneval endet, ein assoziativer Stil, Sätze, die ohne Punkt im Nichts enden, Einschübe, in denen der Leser direkt angesprochen wird, aber auch Inschriften von Grabsteinen, Fragebögen, Gedichte, Wegbeschreibungen und typografische Gebilde.
Von Keishas Aufstieg, ihrer Heirat mit dem erfolgreichen Banker Francesco De Angelis, ihrer Umbenennung in Natalie, dem Hauskauf am Park, ihren sexuellen Abenteuern, die sie im Internet sucht, erzählt Smith in 185 Paragrafen.
Den Lebenskünstlern und Aussteigern Nathan Bogle und Felix Cooper kommt in dieser Geschichte, in der häufiger von weiblicher Sexualität und dem Mutterwerden die Rede ist („Ich weiß nur, dass ich keine Lust habe, etwas von der Größe einer Wassermelone durch etwas von der Größe einer Zitrone zu pressen. Her mit dem Medikamentencocktail, Schwester!“), nur die Rolle von Zaungästen zu.
Zadie Smith: „NW“ (Kiepenheuer & Witsch, 429 Seiten, 19.99 Euro)