Wunsch nach Miteinander
Chris Martin, der kreative Kopf von Coldplay über Pop in den Zeiten des Krisenkapitalismus. Für die deutschen Fans will er 20 Minuten länger spielen.
Ihr aktuelles Album „Viva La Vida“ wurde kürzlich mit knapp sieben Millionen weltweit verkauften Exemplaren offiziell zum bestverkauften Album des Jahres 2008 gekürt. Bei den Grammys wurden Coldplay mit drei Trophäen bedacht und bei den Brit Awards sind sie wieder in vier Kategorien auch als beste britische Band und bester britischer Live-Act) nominiert.
AZ: Mr. Martin, lastet eine Bürde auf Ihrer Band, weil Sie zu den Superstars des letzten Jahres gekürt wurden?
CHRIS MARTIN: Ich will nicht arrogant klingen und natürlich Freude wir uns in Zeiten, in denen kaum noch jemand CDs kauft, auch über sieben Millionen verkaufte Exemplare unseres aktuellen Albums. Aber wenn die Rekorde und Awards eine Bürde für uns darstellten, würden wir sie überhöhen. Für uns war schon immer der Weg das Ziel. Im Moment läuft der Motor unserer Band geschmiert wie nie zuvor. Wir sind hungrig darauf, uns an unseren eigenen Maßstäben zu messen.
Coldplay galt live lange als eher langweilig. Erst spät haben Sie die Bühnenshow entdeckt.
Frank Zappa sagte mal, dass man als Künstler ein gesittetes Privatleben führen solle um in seiner Arbeit wild und extrem agieren zu können. Er hatte absolut recht, denn in den ersten Jahren unserer Karriere waren wir auf der Bühne zu gesittet. Jetzt, da wir alle Kinder haben, macht das Ausleben der Extreme auf der Bühne mehr Sinn und Spaß. Man strebt halt immer nach dem, was man nicht hat.
Setzt das Bewusstsein, älter zu werden, bei Ihnen Energien frei?
Als Sekundärfolge auf jeden Fall. Wir haben das Alter hinter uns gelassen, in dem wir vor allem cool rüberkommen wollten, was wiederum die Energie, respektive den Mut freigesetzt hat, sich jetzt auf der Bühne und in den eigenen Songs viel organischer, authentischer präsentieren zu können, was bis hin zur Absurdität führen kann.
Warum wollten Sie überhaupt als coole Band gelten?
Vergessen Sie nicht, dass wir Engländer sind! Wir schämen uns regelrecht für alles, was dem wirklich freien Ausdruck eines Individuums entspricht. Wir mussten diesen angeborenen Habitus erstmal ablegen, bevor wir als Privatmenschen und Künstler wir selbst sein konnten. Wobei unser neues Selbstbewusstsein eher in unseren bunten Bühnenklamotten als in uns selbst steckt.
Die Bühnenuniformen sind also eine Art Maske, durch die Sie ein höheres Maß an Authentizität gewinnen?
Sie sind auch eine Aufforderung an die Leute, die wenig Geld haben, sich selbst etwas zu schaffen: Mehr Selbstrespekt beispielsweise, um damit eine Art Bewegung in Gang zu setzen, die der momentanen weltweiten Krise trotzt.
Das klingt aus dem Mund eines Millonärs eher zynisch.
Geld zu haben bedeutet nicht automatisch, das Recht auf den Wunsch nach einem empathischen Miteinander bei seinem Bankier abgeben zu müssen. Ich kann an dieser Stelle als Zwischenergebnis mitteilen, dass ich nach zehn Jahren erfolgreicher Musikerkarriere nicht glücklicher bin als vorher. Die Bewegung, die uns vorstrebt, trotzt den turbokapitalistischen Auffassungen von teuren Warengütern als äußerliches Bekenntnis zur Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Klassen. Was denken Sie wohl, warum der Song „Viva La Vida“ ein so großer Erfolg geworden ist?
Weil er bei Ihren Konzerten mehr als jeder andere Ihrer Songs eine Einheit schafft?
Exakt. Die meisten von uns denken, dass es da draußen irgendwo eine Mehrheit gibt, zu der sich der Einzelne nicht zugehörig fühlt, nur weil sich viele von uns bestimmte Etiketten nicht leisten können. Es gibt diese Mehrheit gar nicht und wenn doch, dann besteht sie aus lauter Menschen, die sich nicht zugehörig fühlen. Ein Song wie „Viva La Vida“ schafft tatsächlich ein Zugehörigkeitsgefühl und deswegen sind wir stolz darauf, ihn geschrieben zu haben.
Und warum sind Coldplay-Konzerte dann so eine relativ kurze Angelegenheit?
Diese Kritik hören wir seltsamerweise nur in Deutschland. Ich mag Konzerte nicht besonders, die mehr als 90 Minuten lang meine Aufmerksamkeit fordern. Aber im Sommer werden wir ohnehin zehn Minuten länger spielen, oder vielleicht sogar 20 Minuten mehr – speziell für das deutsche Publikum.
Michael Loesl
Coldplay spielen am 29. 8. im Reitstadion Riem. Karten unter: abendzeitung.ticketbox.de
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