Wunder, Traum und Wehmut
Ein wunderbares Gemisch von Sinn und Unsinn. Die verfluchte Unnatur! Das führe ich nicht auf." Mit diesen Worten warf Johann Wolfgang von Goethe „Das Käthchen von Heilbronn" ins Kaminfeuer - zum Entsetzen des Bittstellers FriedrichWilhelm Riemer, der die Abschrift nur erborgt hatte. Heute, 200 Jahre nach seinem Freitod, ist der Dichter Heinrich von Kleist willkommen in deutschen Theatern. Und kein Wort aus dem „Käthchen von Heilbronn" wird verloren gehen in Dieter Dorns Inszenierung, die am Samstag im Residenz Theater Premiere hat. Damit verabschiedet sich der Intendant nach zehn Jahren vom Bayerischen Staatsschauspiel und holt für dieses Opus magnum fast sein gesamtes Ensemble auf die Bühne. Das traumverwirrte Liebespaar spielen Lucy Wirth und Felix Rech.
AZ: Herr Dorn, ist das „Käthchen” für Sie ein Herzensstück oder dem Kleist-Jahr geschuldet?
DIETER DORN: Das war seit vielen Jahren ein Herzensstück. Aber nach Ernst Wendts Kammerspiele-Inszenierung 1979 hatte es sich für mich erstmal verboten. Jetzt wollte ich zum Abschied mit einem großen Stück das ganze Ensemble zusammenholen. Ich bin sehr dankbar, dass alle mitmachen. Denn es gibt ja nur drei oder vier große Rollen, alle anderen halten das Netz, wie Cornelia Froboess, Jennifer Minetti, Michael von Au oder Heide von Strombeck. Ich wollte alle Rollen so gut wie möglich besetzen mit Leuten, mit denen ich eine gemeinsame Biografie habe. Schade, dass es für einige keine Rollen mehr gab, wie für Rolf Boysen. Aber dafür macht er das Gegenprogramm - er liest die ganze Prosa von Kleist.
Sie haben über vier Monate geprobt.
Ich könnte immer weiter probieren, um in dieser ungeheuren Vielschichtigkeit Kleists eine Balance hinzukriegen. Denn eine Realität gibt's eigentlich nicht. Ein Kreis entsteht durch das Anlegen ganz vieler Tangenten, und genauso hat Kleist unendlich viele Assoziationen und Aspekte hineinverknüpft. Statt einer abgebildeten Wirklichkeit gibt es ganz verschiedene Blickwinkel. Jede Figur hat ihre eigene Realität. Man kann nur einen kleinen Teil von diesem ungeheuren Text erhaschen.
Im Traum hat Käthchen den Grafen Wetter vom Strahl als den ihr verheißenen Ehemann gesehen und folgt ihm seitdem bedingungslos. Der Graf hatte einen ähnlichen Traum, wehrt sich aber dagegen.
Was ist Traum, was Wirklichkeit? Für Käthchen ist der Traum wirklicher als die Wirklichkeit. Der Graf stellt die Wirklichkeit über seinen Traum. Da geht's auch um die Initiation eines jungen Mannes, der seinen Liebesgefühlen nicht traut. Er braucht dafür eine Begründung, weil sein Auftrag eine standesgemäße Heirat ist. Aber man darf das nicht als Drama der Standesunterschiede inszenieren - dann wäre es Schillers „Kabale und Liebe”. Käthchen ist nur ein Katalysator: Sie hat ihren Traum, geht unbeirrt durchs Leben und damit auch den anderen auf die Nerven.
Ihre Aufführung wird fünf Stunden dauern.Warum haben Sie kein Wort gestrichen?
Das sind wir dem Autor schuldig. Kleist hat das Tor zur Moderne geöffnet. In seiner Wahrnehmung der Welt gibt es keine Konstante, er setzt ein Kaleidoskop zusammen, wo jede leichte Drehung alles verschiebt. Ich finde das auch wichtig gegen alle Fastfood-Versuche von Theater. Ich will es mir nicht regisseursgerecht zusammenstreichen und alles eliminieren, was mir nicht einleuchtet. Es gibt ganz viele surreale Momente wie die winzige Szene von Jakob Pech, den Rudolf Wessely spielt. Eigentlich eine überflüssige Figur, aber ein Dialog wie von Beckett. Mein Credo heißt immer: Nummer eins ist die Sprache. Nummer zwei sind die Schauspieler. Erst Nummer drei ist die Regie. Alle Kleist-Stücke sind musikalische Notierungen. Deshalb gibt es auch keine Musik, sondern nur Geräusche, weil der Text schon Musik ist.
Ritterschauspiel, romantisches Märchen, Schauerdrama: Das Stück lässt sich nicht kategorisieren.
Solche Kategorien zu bedienen, wäre dumm. Es geht darum, aus dem Nichts etwas entstehen zu lassen und es so in der Schwebe zu halten, dass in den Assoziationen der Zuschauer alle Aspekte enthalten sind. Es gibt auch Anspielungen auf "Die Zauberflöte" wie die Wasserprobe und die Feuerprobe. Kleist hat viele Dinge verborgen gehalten. Deswegen macht Jürgen Rose kein Bühnenbild, sondern Räume als Assoziationsvorschläge. Es gilt, die leere Bühne zu imaginieren. Ich glaube daran, dass Theater die kollektivste Erfahrung eines Kunstvorgangs ist und die individuellste. 800 Zuschauer sehen am selben Abend 800 verschiedene Vorstellungen. Das ist die Magie, die Kraft des Theaters: mit richtigen Vorschlägen verschiedenste Bilder auszulösen.
Sie haben an den Kammerspielen und am Resi 35 Jahre Münchner Theatergeschichte geprägt. Was empfinden Sie beim Gedanken an Ihren Abschied?
Ich glaube, es war Gottfried Benn, der gesagt hat: „Gefühle sind Pausen in der Produktion." Im Moment habe ich keine Pausen. Das jüngste Kind ist immer das liebste. Dieses ist so komplex, so anstrengend und fordernd, dass man überhaupt nicht daran denkt, was im Hintergrund so herankommt. Ich wollte noch einmal die Kraft des ganzen Hauses in einer Aufführung bündeln. Meine Haltung war mein Leben lang: Treue gegenüber den Künstlern, die was zu sagen haben. Die sind wie eine Familie. Und auch die, die vor uns gegangen sind wie Gisela Stein, Helmut Griem oder Jörg Hube, sind alle da, als wäre es gestern gewesen. Das ist genau das Thema des Stückes: Was ist Traum, was Wirklichkeit – Verlust und Wehmut eingeschlossen.
Sie sind als Regisseur von Salzburg bis New York gefragt. Was steht nach München an?
Es gibt schöne Zukunftsprojekte, die aber noch nicht spruchreif sind. Nicht in München natürlich - da mache ich einen klaren Schnitt.
Sie sind durch und durch ein Theatermensch. Welche Funktion hat dieses Medium heute noch?
Theater ist wie in der Antike eine Versammlung von Stellvertretern für das, was man nicht mehr selbst erleben kann: Man kann nicht mehr Held sein. Die Leute müssen etwas bekommen, was sie sonst nicht bekommen können. Und es muss, wie Brecht sagt, dem Vergnügen dienen, hell sein vor Erkenntnis. Genau das fordert Kleists Stück. Um es kleistisch zu sagen: Wenn Adam und Eva den Apfel nicht gegessen hätten, wären wir alle noch im Paradies. Und das wäre furchtbar, denn dann hätten wir bis heute keine Erkenntnis und kein Bewusstsein.
Gabriella Lorenz
Premiere: Residenz Theater, Samstag 17 Uhr, Tel. 2185 1940