Wo selbst Sisi Torte aß
Monika Czernins Buch über Anna Sacher und ihr Hotel ist eine wunderbare Kulturgeschichte
Wer heutzutage im Wiener Sacher ein Stück Torte essen möchte, braucht Geduld und muss sich in eine Schlange von (japanischen) Touristen vor der Tür einreihen. Seit 80 Jahren gehört das Hotel der Familie Gürtler, berühmt gemacht aber hat es Anna Sacher, die Schwiegertochter des Tortenerfinders Hans Sacher.
Anna Sacher war eine epochenprägende, ungemein emanzipierte Frau und führte das Hotel und Restaurant nach dem frühen Tod ihres Mannes Eduard 1892 bis zu ihrer Entmündigung 1930 in Eigenregie.
Die von der österreichischen Journalistin Monika Czernin geschriebene Biografie ist auch deswegen so spannend, weil sich an der Geschichte des Sacher Glanz und Niedergang einer ganze Epoche spiegelt, ganz so wie beim Adlon in Berlin. Schließlich belieferte das Sacher nicht nur Feste in der Hofburg, im Sacher traf sich die politische und kulturelle Elite der Monarchie – und deren versprengte Reste nach dem Ersten Weltkrieg. Selbst ein Besuch der magersüchtigen Kaiserin Sisi im Sacher Gartenrestaurant im Prater ist verbürgt (1891). Und alle – von Gustav Klimt bis Gustav Mahler, Arthur Schnitzler oder Franz Ferdinand – verkehrten im Sacher, der Klatschbörse und Bühne Wiens. An der Schnittstelle zwischen der im 19. Jahrhundert erbauten Ringstraße und der Altstadt gelegen, verband das Sacher das adelige Wien mit dem aufstrebenden großbürgerlichen Ringstraßenwien – nicht nur geografisch.
Für den Bürgermeister ist das Sacher „Zuflucht der Überflüssigen“
In vielen fiktiven Sequenzen, lässt Czernin die für ihre Schlagfertigkeit berühmte Anna Sacher auf bekannte Gäste treffen, oder mit dem Personal organisatorische oder soziale Fragen diskutieren. Diese Mischung aus Roman und Geschichtsbuch ist zwar ungewöhnlich, aber ausgesprochen unterhaltsam. Und keineswegs unseriös. Denn Monika Czernin hat akribisch recherchiert, Dutzende Archive durchforstet und pendelt souverän zwischen der Geschichte der Anna Sacher und den gesellschaftspolitischen Veränderungen in dieser taumelnden Zeit.
Anna Sacher, vom „Neuen Wiener Tagblatt“ als „Maria Theresia der Hotellerie“ bezeichnet, kam als Tochter eines Fleischhauers aus einfachen Verhältnissen. Ihre Hochzeit mit dem schon berühmten Eduard Sacher katapultierte sie 1880 in andere gesellschaftliche Sphären. Durch Hartnäckigkeit, Ehrgeiz und viel Geschick als Gastgeberin machte sich die Sacher schnell beliebt. Aber sie hatte auch Gegner wie den Wiener Bürgermeister Karl Lueger, der ihr eine quietschende Tramlinie vor die Hoteltür platzierte und sich abschätzig über das Sacher als „Zuflucht der Überflüssigen“ ausließ. Das sahen die Champagnerfreunde in den Séparées natürlich ganz anders.
Der Untertitel „Das letzte Fest Europas“ bezieht sich auf ein ungewöhnliches Ereignis: Der Derbysieger des Jahres 1914, das Pferd Confusionarius, ist in Besitz des ungarischen Lebemannes Nikolaus von Szemeres, der diesen Anlass gebührend feiern will. Das Sieges-Diner für das Pferd auf dem Rennplatz wird von Sacher ausgerichtet, 300 Gäste berauschen sich in einer lauen Sommernacht. Wenige Wochen später wird Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo erschossen und im August versinkt das alte Europa in einem Krieg, in dem das Habsburger Vielvölkerreich endgültig untergeht.
Anna Sachers Hotel wird teilweise Lazarett, und mit der Spanischen Grippe und der schweren Hungersnot beginnen die schlimmsten Zeiten für die Wiener nach Kriegsende. Doch das Kulturleben steigt bald wieder wie Phoenix aus der Asche und alle Erfolge, ob in der Oper, oder im Burgtheater haben ihre Verlängerung im Sacher, so auch die Uraufführung von Emmerich Kalmans „Gräfin Mariza“: „Nach dem tosenden Schlussapplaus trugen Studenten die Darsteller unter Jubelrufen über den Karlsplatz und die Ringstraße zum Hotel Sacher. Ihre Kostüme wurden als Trophäen verteilt“, schreibt Czernin. Das ist nur eine von unzähligen Anekdoten in einem außerordentlich vergnüglichen Geschichtsbuch.
Monika Czernin: „Das letzte Fest des alten Europas“ (Knaus Verlag, 352 Seiten, 19.99 Euro)