Wildes Belgien: Stadtsafari durch Charleroi
Schön? Nein, schön ist Charleroi sicher nicht. Seit die Stahlwerke, Eisenhütten und Kohleminen knirschend zum Stillstand gekommen sind, liegt eine Leere über der belgischen Stadt 50 Kilometer südlich von Brüssel. Eine Leere, in der das Unkraut sprießt - aber auch einiges an Kreativität.
Charleroi - "Das ist bekloppt, man hat das Gefühl, in einem kommunistischen Film zu sein", sagt Nicolas Buissart. Der quirlige 32-Jährige ist Krisenprofiteur. Auf seinen "urbanen Safaris" leitet er Besucher zu verlassenen Schloten und heruntergekommenen Quartieren.
"Was die Deutschen [im Krieg] nicht zerstört haben, das haben die Sozialisten kaputtgemacht", sagt er - und hat gleich Angst, jetzt könnte die Zunge mit ihm durchgegangen sein. Neben Besuchern aus dem wohlhabenden flämischen Norden führt er auch "ziemlich viele Deutsche" durch die Stadt. Die sozialistische Partei ist stark in der Arbeiterstadt Charleroi, allerdings auch von immer wiederkehrenden Korruptionsvorwürfen geplagt.
Dass die Behörden ein Stadterneuerungsprojekt nach Protesten der Bewohner nun neu planen müssen, kommt Buissart entgegen: "Das ist gut für mein Geschäft. Das hier wird noch mindestens ein Jahr lang Ähnlichkeit mit Grosny haben", sagt er grinsend. Die Hauptstadt Tschetscheniens fiel im Bürgerkrieg in Trümmer.
Sätze wie diese sind ein Grund für das angespannte Verhältnis zwischen Buissart und der Stadtverwaltung. Dass seine Website mit der "deprimierendsten Straße Belgiens" wirbt und auch das Haus des Kindermörders Marc Dutroux erwähnt, macht die Sache nicht besser. Die Tourismus-Abteilung wirbt online lieber mit der "warmherzigen und malerischen" Atmosphäre der 200 000-Einwohner-Stadt, mit Grünanlagen und Schlössern. Die gibt es. Aber man muss sie suchen gehen.
Als die Industrie in Schwierigkeiten geriet, begann auch der Stadt das Geld zu fehlen. In Belgien weithin bekannt ist die bis heute nicht fertiggestellte U-Bahn. In Charleroi stehen komplette Metro-Stationen, die niemals ein einziger Passagier benutzt hat. Von dort schlängeln sich grün überwachsene Gleise ins Nirgendwo. Die Gemeinde ringt weiterhin um den schrittweisen Weiterbau des Großprojekts.
Im Vergleich zu Deutschlands Ruhrgebiet, der ehemaligen Kulturhauptstadt mit ihren mancherorts sorgsam renovierten Zechen, kommt Charleroi daher wie der Wilde Westen der Industriegeschichte.
"Weil die Zukunft ungewiss ist, befindet man sich ständig [nur] in der Gegenwart", philosophiert Adrien Tirtiaux. Der schlaksige junge Mann ist Teil der Gruppe "Hotel Charleroi", die Künstler aus dem Ausland in die Stadt lockt. Vergangenes Jahr steuerte Österreich Mittel bei - dieses Mal gebe die Region Wallonie im Süden Belgiens Geld. Bei Regen tropfe es in den riesigen Messehallen-Komplex aus den Nachkriegsjahren, den die Gruppe dieses Jahr nutzt. Charleroi ist eine Stadt, die sich selbst zu groß geworden ist.
Für Künstler und Fotografen jedoch ist dieser abgeblätterte Ort eine Goldmine. Die Stadt beherbergt nicht zufällig ein bekanntes Fotografie-Museum. Buissart berichtet, er helfe regelmäßig Filmcrews bei der Suche nach Drehorten. "Charleroi ist überschminkt. Aber wenn man das filmt, dann sieht es normal aus", sagt er.
Der Niedergang ist auch ein Wandel, der Freiräume schafft. Einen davon hat Benito Artoy mit dem Künstlerkollektiv "Rockerill" besetzt. In einer historischen Werkhalle aus dem 19. Jahrhundert baut er metallene Figuren, malt, organisiert Konzerte und Partys. Das Hardrock-Konzert neulich habe bis acht Uhr morgens gedauert - "Das stört hier nicht."
Artoy ist ein leidenschaftlicher "Carolo", wie die Einwohner Charlerois in Belgien heißen. "Wir sind in den Fabriken geboren", sagt er stolz. Hässlich? Falsche Frage! Die rauchenden Schornsteine, das seien für ihn als Kind "Wolkenfabriken" gewesen. Wenn man sich diesen Blick bewahre, dann finde sich die Schönheit schon. "Wenn du Lust hast, sie zu finden, wirst du sie finden."
Und sie findet sich. Zwischen vernagelten Ladenlokalen ragen spitze, grüne Hügel in die Luft - die Halden, Folgen des Bergbaus, sehen heute aus wie Vulkankuppen. "Es ist noch gar nicht so lange, dass wir [in Charleroi] uns des industriellen Erbes bewusstgeworden sind, dass man etwas machen muss", gibt Lina Turchet vom Tourismus-Büro der Stadt zu. Buissarts Touren gefallen ihr gar nicht: "Das ist nicht professionell, das ist kein Tourismus." Jede Stadt habe dunkle Seiten. "Es ist eine etwas schwierige Stadt mit einem etwas harten Antlitz."
Das will die Stadt nun stärker zeigen und sich dabei auch etwas vom Ruhrgebiet abschauen. Dort will auch Nicolas Buissart unbedingt mal hin. Mit einer Reisegruppe, meint er. Das sei sein Traum.
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