Wie der Genius loci wirkt
Mozart und mehr: Eindrücke vom Endspurt der Salzburger Mozartwoche mit Simon Rattle, Pierre Boulez und einem radelnden Briefträger.
Mitten im Menuett verließ der Trompeter seinen Platz. Im gelben Anorak kehrte er, das Posthorn blasend, radelnd auf die Bühne des Hauses für Mozart zurück und brachte dem Konzertmeister ein Paket. Und ehe er verschwand, holte sich Dirigent Marc Minkowski noch ein Kuvert aus dem Korb auf seinem Gepäckträger.
So ändern sich die Zeiten. Die einst verbissenen Musiker der historisierenden Fraktion witzeln nun wie beim Neujahrskonzert. Leider trübte die mäßige Intonation der Oboen das Vergnügen am frisch-fülligen Orchesterklang der Musiciens du Louvre, deren Cembalist in Haydns spritzigem D-Dur-Konzert brillierte. Nächstes Jahr kehren die Musiker mit „Idomeneo“ zu dem Festival zurück, das sich trotz zeitgenössischer Einsprengsel einer Rekord-Auslastung von 96 Prozent erfreut.
Ein Samstag - drei Konzerte
Der melancholisch-schöne Mozart-Stil alter Schule, wie ihn die Generation von Zubin Mehta noch pflegt, überwintert in der Kammermusik. Am Samstagvormittag spielte András Schiff mit Kollegen das Quartett g-moll für Klavier und Streicher. Hier wehte der neue Geist des Winterfestivals: Mozart umrahmte späte Debussy-Sonaten, die im Zusammenhang wegen ihrer unterschiedlichen Besetzungen nur bei Festivals zu hören sind und in ihrem neoklassizistischen Gestus gut zum Salzburger Lokalheiligen passen.
Nach einer Pause folgte ein reines Boulez-Programm im modern kühlen Solitär, dem neuen Konzertsaal des Mozarteums am Mirabellgarten. Zwischen der frühen Klaviersonate Nr. 1 von 1946 und einer taufrischen „Page d’épheméride“ für Klavier standen elektronisch reizvoll erweiterte Solo-Stücke. Jörg Widmann folgte seinem Klarinetten-Schatten bei „Dialogue de l’ombre double“. Dann bezauberte seine Schwester Carolin mit dem klangüppigen „Anthemes 2“. Die Computer des Experimentalstudios des SWR verzuckerten ihre Geige mit einer an Messiaen gemahnenden Süße, die dem strengen Serialisten bisher fremd war.
Zweieinhalb Stunden später dann die Wiener Philharmoniker unter Simon Rattle im Großen Festspielhaus: Über den Brahms des Briten mag man streiten, sein Haydn bleibt unerreicht. Die Ausbrüche im Largo der Symphonie Nr. 88 besaßen Kraft und klassisches Maß zugleich. Ernst genommen, nicht verniedlicht, entfaltet sich die Größe des unterschätzten Meisters.
Rattles Mozart-Sternstunde
Dann sang die indisponierte Magdalena Kozena schön, aber nicht hymnisch genug und mit schwacher Textartikulation Mahlers Rückert-Lieder und verzichtete auf zwei der drei angekündigten Versionen der Susannen-Arie aus dem „Figaro“. Zuletzt glückte bei Mozarts g-moll-Symphonie KV 550 eine Sternstunde sublimierter Rastlosigkeit. Rattle krempelte die Klangvorstellung der Wiener nicht um, sondern arbeitete damit. Nicht verhetzte Tempi sorgten für eine hochnervöse Aufführung, die sich trotz extremer Zuspitzungen nie in Theatralik oder selbstzweckhafter Brillanz verlor, die Rattles Auftritten sonst nicht fremd ist. So gut geht es Mozart nur in Salzburg. Der Genius loci hilft doch.
Robert Braunmüller
Infos zur Mozartwoche 2010 unter www.mozarteum.at