Wie alles begann
Im 60. Jahr der Bundesrepublik dokumentiert das Literaturhaus in der Schau „Doppelleben“ die schwierigen Anfänge der freien Medien und des Literaturbetriebs nach dem Krieg
"Es geht nicht an, in Geburtstags-Sentimentalität zu vergessen, was uns von Thomas Mann scheidet. Er tritt uns als Exponent einer bis zur Dummheit gehenden Abneigung gegen Deutschland entgegen, und diesem Affekt, der ihn zu verzehren scheint, antworten aus dem Volk, dem er einmal angehörte und von dessen Schicksal er sich nicht 1933, sondern 1945 trennte, Verachtung und Wut.“ Die Härte, mit der die „FAZ“ 1950 dem Nobelpreisträger zum 75. Geburtstag gratuliert, verwundert nur aus heutiger Sicht.
Aber in den Nachkriegsjahren tobte die große Debatte zwischen Exilanten und den Künstlern, die in der Nazizeit die innere Emigration vorgezogen hatten. „Doppelleben“ (nach einem Benn-Essay) heißt die Ausstellung im Literaturhaus München, die im 60. Jahr der Bundesrepublik den Blick auf die Anfänge von freien Medien und Literaturbetrieb lenkt.
Viele damals Gelesene sind heute vergessen
Die von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung konzipierte Schau ist vom Münchner Literaturhaus erheblich erweitert worden. Schließlich wurde München nach 45 schnell literarisches Zentrum, was vor allem an der Kulturoffensive der amerikanischen Besatzung lag.
Im Literaturhaus bilden nun drei kleine Mini-Kinos den Gegenpol zur hochinteressanten, aber naturgemäß textlastigen Ausstellung, sie sind auch der emotionale Höhepunkt: In dem 20-minütigen Film „Frühjahr 1945“ reist der Zuschauer zu pathetischen Texten von Heinz Flügel durch das vollkommen kriegszerstörte München. Im Film „Literarische Stimmen“ referieren Autoren von Kästner bis Koeppen über ihre Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit. Viele Autoren, die in den Nachkriegsjahren gelesen wurden, sind mittlerweile fast vergessen: Georg Britting, Hans Carossa, Georg von der Vring oder Werner Bergengruen waren die literarischen Stars, die legendäre Gruppe 47 rückte dagegen erst Ende der 50er Jahre in das öffentliche Bewusstsein.
Literaturhaus-Chef Reinhard Wittmann konnte wenige Stunden nach der Eröffnung noch auf einen anderen 60. Geburtstag anstoßen: seinen eigenen. Der Mann, der entscheidend zur Gründung des „besten, schönsten und größten Literaturhauses im deutschsprachigen Raum“ (so OB Christian Ude) beitrug, hat sich mit dieser zeitintensiven, aber sehenswerten Schau ein adäquates Geschenk gemacht.
Volker Isfort
Salvatorplatz 1, bis 17. Januar, Di – bis So, Eintritt 5 Euro