Was Männer und Frauen in ihrem Sex-Leben wollen
München - Gerade ist das Buch „Himmel auf Erden & Hölle im Kopf“ (Goldmann-Verlag) erschienen, in dem der Sexualwissenschaftler Ahlers erklärt, was Sexualität für uns heute bedeutet.
AZ: Herr Ahlers, Sie schreiben in Ihrem Buch klare Sätze wie: „ ...kompliziert ist, dass Männer durch Sex Nähe herstellen wollen, Frauen dagegen Nähe brauchen, um Sex haben zu wollen“.
CHRISTOPH JOSEPH AHLERS: Ja, aber wenn man über Geschlechtsstereotypen spricht, vereinfacht man natürlich. Als Sexualwissenschaftler muss man sich natürlich mit den biologischen, psychologischen und sozialen Unterschieden des Sexualkonzepts von Mann und Frau auseinandersetzten.
Die verwischen doch immer mehr.
Vielleicht, aber es gilt eben doch: Männer haben schon aus sich heraus Lust auf Sex. Man kann das daran sehen, dass es trotz der sexuellen Emanzipation der Frau im Umfang nichts Vergleichbares zu den Bordellen gibt. Frauen haben Sex viel mehr personen- und beziehungsbezogen.
Warum gilt das trotz größerer wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Frau heute noch?
Wir gehen wissenschaftlich davon aus, dass das biologisch begründet ist. Frauen bleiben körperlich unterlegen und gehen daher bei Nähe ein größeres Risiko-Investment ein, auch was eine mögliche Schwangerschaft betrifft. So bräuchten sie im Falle eines Falles Beistand und Versorgung. Der Mann kann so tun, als ob er mit nichts etwas zu tun hat. Daher scheint es sich evolutionspsychologisch so entwickelt zu haben, dass Frauen den Mann erst einmal ein Assessment-Center durchlaufen lassen: Ist der vertrauenswürdig? Kommt der wieder? Und das sind eben keine sexuellen Fragen, sondern immer Beziehungsfragen. Beim Mann gilt halt eher noch: Busen, Beine, Po – und das Screening ist beendet.
Sie behaupten aber, dass der Unterschied kein Problem ist.
Weil Mann und Frau letztlich doch das Gleiche wollen, auch wenn zugespitzt gilt: Männer wollen Sex, um Stress abzubauen, Frauen müssen Stress abbauen, um Sex zu haben. Aber wir müssen eben deshalb nicht verzagen!
Dann haben Sie ja den Schlüssel zum Kernproblem: Was Männer und Frauen wollen!
Ja, es geht dem Mann letztlich nicht um den Orgasmus, sondern um Wertschätzung, Anerkennung oder auch Bewunderung. Er will das Gefühl bekommen, gut zu sein, es gut zu machen, und dabei geht es nicht um Sextechniken.
Das könnte man aber auch bei einem wilden Sexualleben bekommen.
Nein, das kann er nur bekommen von jemandem, der ihm was bedeutet – und das bleibt in der Regel die Partnerin.
Und was will eine Frau?
Dasselbe. Aber auch bei der Frau muss man das Verständnis für den Mann wecken. Sie denkt oft: „Ich mach doch alles in unserem Leben, und dann muss ich auch noch für das ,herhalten‘, dabei bin ich ihm doch als Person egal ...“ So arbeite ich mit Paaren immer heraus, was beide wollen: nämlich Anerkennung. Sie bildet – bei aller Unterschiedlichkeit zwischen Mann und Frau – eine Schnittmenge.
Könnte sich eine Frau, wenn es nicht mehr um Kinderkriegen geht, nicht sexuell dem Mann anpassen?
Es gibt ja auch verstärkt die sexuelle Emanzipation von Frauen ab der Menopause. Frauen werden freier, selbstbewusster. Ich erlebe in meiner Praxiserfahrung gar nicht so wenige Frauen, die sich dann aus der Fassaden-Ehe lösen und sich Frauen zuwenden, die sie mehr oder weniger unterbewusst schon immer geliebt haben. Aber auch bei größerer Entkrampfung neigen ja Frauen nicht zu schnellen, anonymen Sexualkontakten ...
Als Therapeut sind Sie ja meist mit nicht funktionierenden Sexualleben konfrontiert. Einer der „Klassiker“ ist: Eine Frau verliebt sich immer in unerreichbare oder verheiratete Männer.
Interessant und tragisch ist: Solche Beziehungspräferenzen sind unheimlich hinderlich und stabil zugleich. Mir erzählen Frauen: „Ich gerate immer an den Falschen. Ich gerate nie an einen, der nur mich alleine will!“ Und das wird dann als Schicksal definiert. Aber es ist etwas, das in den ersten beiden Lebensjahrzehnten geprägt wird. Und hier können wir davon ausgehen, dass ein emotional distanzierter Vater eine große Rolle spielt: das Gefühl des Mädchens, die Anerkennung des Vaters schwer oder gar nicht erlangen zu können und daher umso intensiver darum kämpfen zu müssen. So lernen die Mädchen: Sich-Abstrampeln ist das Programm, mit dem ich mir Aufmerksamkeit verschaffen muss. Nettsein, Freundlichsein, Hübschsein wird dann zum Lebensprogramm. Und sobald ein Mann dann nicht zu erreichen ist, wird sofort dieses Präferenzmuster aktiviert. Die Frauen dienen sich an, geraten dadurch in die Position der Geliebten, aber nie in die Partnerrolle.
Und welches Fehlverhalten zeigt sich bei Männern, wenn im Kindesalter die ödipale Phase schief läuft?
Das sind zum Beispiel die hoffnungslos Dauerverliebten – oft in Frauen, die keine Resonanz zeigen. Und das geht dann manchmal bis zum Stalking. Die Ursache ist oft das Gefühl des Jungen, von der in der kindlichen Lebensphase begehrten Mutter nicht die emotionale Wertschätzung bekommen zu haben. Da gibt es diese Lehrbuchsätze vom vier- oder fünfjährigen Sohn: „Stimmt’s Mami, wenn wir später heiraten, schmeißen wir den Papa raus!“ Später reagieren dann diese Jungen als Männer auf nicht reagierende Frauen mit dem Schnappreflex. Und da heißt es dann auch: „Ich verliebe mich immer in die Falschen und komme nie an.“
Und dann gibt es ja noch diesen wunderbaren Begriff des Don-Juanismus als Reaktion auf die mangelnde Emotion der Mutter.
Ja, da gibt es diesen pseudo-diagnostischen, beliebten Begriff „Sexsucht“. Aber es ist das Phänomen der Überkompensation der eigenen kindlichen Unwirksamkeitserfahrung. Die gesamte Energie geht dann dahin, Frauen „aufzureißen“, „flachzulegen“ und für sich einzunehmen. Es ist der Versuch einer Selbstwertstabilisierung durch den Stützpfeiler der Eroberung. Vordergründig wirkt das wie ein ausgeprägteres sexuelles Verlangen. Aber damit hat das nichts zu tun.
Man erlebt ja zur Zeit die Auflösung der bürgerlichen Ehe als Form des klassischen Zusammenlebens...
Ja, weil sie eine rein soziale oder kirchenrechtliche Institution ist, die als gewünschte Rechtsform erst einmal nichts mit Sexualität zu tun hat. Warum sich also heute Menschen immer noch zusammentun, hat weder mit Fortpflanzung noch Versorgung oder Erregung zu tun. All das können Frauen auch alleine. Der einzige bleibende Grund ist ein psycho-sozialer: die Frage, fühle ich mich mit einem festen Partner wohler als ohne?
Was halten Sie von der Idee der „Ehe auf Zeit“, also 7 Jahre mit Verlängerungsoption?
Ich bin gegen Bezifferungen, wie das „verflixte siebente Jahr“. Aber ich finde, das Eheversprechen sollte nicht bis ans „Ende unserer Tage“ lauten, sondern beinhalten: Wenn wir uns nicht mehr wohlfühlen, lassen wir es nicht schleifen, sondern gehen es an und lassen es gegebenenfalls auch sein. Aber wenn Kinder da sind, sollte man ab der Geburt einen 20-Jahres-Plan haben, weil bei Kindern der Spaß aufhört und aus entwicklungspsychologischer Sicht für Kinder der lange elterliche Zusammenhalt wichtig ist.
Und wie geht man dann mit dem Fremdgehen um, dem Sie die Funktion der Selbstbestätigung zuschreiben?
Ich versuche nur, die „Katastrophe des Fremdgehens“ in unsere Lebensführung zu integrieren – übrigens von Männern und Frauen gleichermaßen. Weil wir lebenslang versuchen, unser Selbstwertgefühl zu stabilisieren, ist natürlich eine sexuelle Eroberung oder Verführung ein wunderbarer Schauplatz, um diese Gefühlsaufwertung zu erfahren. Deshalb ist die Reaktion des anderen „Oh Gott, jetzt ist es passiert!“ oder „Jetzt ist es aus!“ nur ein Zeichen, wie ablehnend wir damit umgehen. Ich plädiere für eine radikale Integration mit der Feststellung: Wir sind Menschen, bei denen so etwas passieren kann. Und für ein Paar stellt sich also die Frage: Wie gehen wir damit um, damit wir möglichst beide heil bleiben?
Und welche Fehler werden da vor allem gemacht?
Zum Beispiel das detailversessene Erzählen-Müssen der Geschichte.
Aber vielleicht will ein Betrogener die Geschichte ja genau zum Verarbeiten-Können erst einmal vor Augen haben!
Ja, aber das ist neurotisch! Diese Details bewirken genau das Gegenteil. Sie machen den einen immer „schuldiger“ und belasten den anderen immer mehr.
Immer mehr Männer sollen immer weniger Lust haben. Stimmt das Diktum: Stress ist das beste Verhütungsmittel?
Es gibt Studien, die belegen, dass das individuelle Belastungsgefühl im 21. Jahrhundert deutlich angestiegen ist, weil wir immer erreichbar sind und so etwas wie eine Freizeitkultur weggefallen ist. Aber „Stress“ ist ein Klischee und eine Plattitüde, die Menschen vortragen, wenn es sexuell nicht mehr so klappt. In einem Therapiegespräch hält sich diese Behauptung 30 Sekunden!
Was stimmt daran nicht?
Es ist nicht die Arbeit, die Familie oder sonst etwas, sondern der gefühlte Leistungsdruck, bei der Partnerin oder dem Partner etwas „abliefern“ zu müssen: wie ich aussehe, wie ich’s bringe! Auch wenn vorhin die Waschmaschine ausgelaufen ist oder ich als Vorbild-Mann gerade Windeln gewechselt habe.
Was hat sich in 20 Jahren therapeutischer Praxis verändert?
Das starke Nachlassen des sexuellen Verlangens bei Männern. Der Satz „Männer wollen das“ gilt nicht mehr so einfach.
Und was sind die Gründe?
Ich führe das auf den angesprochenen inneren Leistungsdruck und die totale Verfügbarkeit von Internet-Sex und -Pornografie zurück.
Wir denken ja, dass die junge Generation gut unterscheiden kann zwischen virtueller Realität im Internet und der realen Welt.
Aber die Unterscheidung ist absurd, denn die Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen findet großteils ja im Internet statt und ist daher auch ihre Erlebniswirklichkeit. Natürlich können sie Animationsfilme als Fiktion erkennen und wissen, dass man im wirklichen Leben kein Actionheld mit zehn aufladbaren Leben ist. Aber so ein Transferfilter fehlt bei der Entlarvung von Pornografie als fiktionaler Sexualität, weil ich hier mit eigenen Bedürfnissen konfrontiert und sexuell erregt werde. Und weil das alles so erregend ist, kommt man zum Schluss: So, wie ich es da auf dem Bildschirm sehe, muss ich das also machen, damit ich gut ankomme und ein „geiler Lover“ bin. Es wird nicht als Unterhaltung verstanden, sondern als Verhaltensmuster. Wohin das im Sexualverhalten künftig führen wird, wird man sehen.
Zum Autor - Christoph-Joseph Ahlers
Der Sexualpsychologe Christoph Ahlers arbeitet seit 20 Jahren an der Berliner Charité und betreibt eine eigene therapeutische Praxis. | „Himmel auf Erden & Hölle im Kopf“ (Goldmann, 448 Seiten, 19,99 Euro)