Warum in die Ferne schweifen?

Dietmar Bittrich kennt tausend Gründe, den Urlaub auf dem Balkon zu verbringen
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Dietmar Bittrich kennt tausend Gründe, den Urlaub auf dem Balkon zu verbringen

Einverstanden: Die Inszenierung des Sommers ist bisher ins Wasser gefallen, und die Zufriedenheit mit der Politik erreicht Negativrekorde. Aber das sind doch alles keine Gründe, das Land zu verlassen! Schließlich erkennt man, das wusste schon Mark Twain, Menschen, die viel gereist sind, „am unzufriedenen Gesichtsausdruck“. Dem gilt es abzuhelfen. Dietmar Bittrich hat die Welt schweren Herzens besichtigt und ist zurückgekommen, um seine Landsleute zu warnen. „1000 Orte, die man knicken kann“, ist die vergnüglichste Urlaubslektüre, die sich die Daheimbleiber auf dem Balkon unterm Regenschirm wünschen können.

„Man muss Rom nicht kennen, um es zu hassen. Aber es hilft enorm“, urteilte Marcello Mastroianni. Der Mann hat schließlich dort gelebt. Auch Bittrich widmet in seiner Klageschrift Italien das dickste Kapitel, hat sich aber am lustigsten auf Florenz eingeschossen. Dort gibt es laut Picasso das „deprimierendste Kunstgefängnis des Abendlandes“, von Kennern als Uffizien bezeichnet. Und Auguste Rodin entdeckte „die am schlechtesten proportionierte Skulptur der Renaissance“, den David. „Was Einheimische nicht essen wollen, das bieten sie den Touristen an“, schreibt der Autor und listet Spezialitäten wie tripa alla fiorentina auf, von ihm als „Fransen und Zotteln aus dem Inneren verendeter Borstentiere“ entlarvt.

Aber, um es mit dem Bochumer Frank Goosen zu sagen: „Woanders ist auch Scheiße.“ Zum Beispiel in Athen, das „kürzlich in einem Fernseh-Voting zur hässlichsten Stadt des Landes gewählt wurde“, wie Bittrich schreibt. Da das Atmen dort im Dauersmog so unmöglich ist wie das Schlafen, empfiehlt der Autor weiträumiges Umreisen. Athen schafft alle. „Vor wenigen Jahrzehnten haben noch griechische Kulturminister Teile des Akropolis-Reliefs zurückgefordert, seither sind die Stimmen leiser geworden. In Athen, darüber sind sich die Offiziellen mittlerweile einig, hätte keines der Stücke überlebt.“

Auch in Ägypten findet der Autor nur Plagen statt Sehenswürdigkeiten, betrachtet die Nilfauna, („Fische, Flöhe, Wasserratten“) und zitiert Isaac Babel: „Ich reise nicht in Länder, in denen das letzte intelligente Leben vor dreitausend Jahren ausgestorben ist.“ Da Bittrich aber weiß, dass Mitreden wichtiger ist als Miterleben, hat er seinem Anti-Reiseführer auch das nützliche Kapitel „Das genügt für ein Expertengespräch“ beigefügt, oder Tipps, wie man lästige Mitreisende los wird, falls man doch mal Deutschland verlassen sollte. Brasilienreisende (die WM 2014 naht) aber seien jetzt schon gewarnt: „Kreditkarten und Geld gehören in den Hotelsafe. Und zwar in den eines Hotels in Nordamerika oder Mitteleuropa.“

Wenn das zu aufregend klingt, bleibt ja immer noch Schweden, das langatmigste Land der Welt, Dänemark („Kopenhagen macht am schnellsten verständlich, warum die Skandinavier jenseits der fünfundzwanzig Alkoholiker sind“), oder England. Für London liefert Dame Judy Dench die bestechendste Analyse: „Wenn man hier nicht wohnt und nie herkommt, geht es.“

Dreißig Prozent der Deutschen wollen in diesem Jahr auf den Urlaub verzichten. Nach der Lektüre dieses Buches könnte dieser Trend sprunghaft steigen.

Volker Isfort

Dietmar Bittrich: „1000 Orte, die man knicken kann“, rororo, 208 Seiten, 8.95 Euro

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