Vorlesen und vorleben!
Wie man Kindern Lust auf Bücher macht: Die Autorin und Literaturkritikerin Amelie Fried erinnert sich daran, wie sie selbst die Liebe zur Literatur durch die Eltern entdeckte
Die Liebe zum Lesen kann man Kindern nicht anerziehen, man muss sie ihnen vorleben. Als ich ein kleines Mädchen war, verging kein Tag, an dem meine Mutter mir nicht vorgelesen hätte. Vom Engelchen, das seine Mutter suchte, vom ungezogenen Dackel Waldi, der Häschenschule und dem fliegenden Robert. Bald konnte ich die Texte auswendig, am liebsten mochte ich, wenn sie sich reimten und ich sie gemeinsam mit meiner Mutter sprechen konnte.
Mit knapp sechs, noch bevor ich in die Schule kam, konnte ich lesen, ohne dass es mir jemand beigebracht hätte. Und von da an sah man mich meistens mit einem Buch vor der Nase. Sogar, wenn ich meine jüngeren Brüder aus dem Kindergarten abholen musste, ging ich lesend die Straße entlang. Wie Prinz Hamlet, spotteten meine Eltern liebevoll, waren aber insgeheim glücklich darüber, dass ihre Leseleidenschaft auch von mir Besitz ergriffen hatte.
Die Liebe zum Lesen kam in meinem Elternhaus nicht von ungefähr: Meine Mutter ist ausgebildete Buchhändlerin, mein Vater war ein leidenschaftlicher Literaturliebhaber, der bis zu seinem Lebensende 15 000 Bücher zusammengetragen hat. So wuchs ich inmitten von Büchern auf und erlebte Literatur als selbstverständlichen Bestandteil des Lebens. Egal, ob man sich unterhalten, informieren oder bilden wollte – der Griff zum Buch war immer das Erste und Naheliegendste.
Die Leidenschaft weitergeben
Ohne groß darüber nachzudenken, haben auch mein Mann und ich (beide Autoren) unsere Leidenschaft für Geschichten und Bücher an unsere Kinder weitergegeben – zunächst, indem wir ihnen vorgelesen haben, später erfand mein Mann aufregende Stegreiferzählungen, und noch später schrieben wir gemeinsam eine ganze Kinderkrimi-Reihe, die Abenteuer von Taco und Kaninchen, für Kinder im Alter unserer Kinder, die natürlich als Testleser fungierten.
Sicher hat auch Harry Potter Anteil daran, dass sie Lesen als etwas Aufregendes und Abenteuerliches erlebt haben – Frau Rowling sei Dank! Vielleicht liegt eines der Geheimnisse, wie Kinder Lust zum Lesen bekommen, ganz einfach darin: dass sie Lesen als Spaß erleben, nicht als Anstrengung. Das heißt, sie sollen lesen, was sie wollen, auch wenn's nicht nur die pädagogisch wertvollen Meisterwerke der Kinderliteratur sind. Ich erinnere mich an die Geschichten von Petterson und seinem Kater Findus, die von einer nervtötenden Redundanz sind und mich beim Vorlesen an die Grenze brachten – meine Kinder fanden sie toll. Also hab ich sie ihnen weiter vorgelesen.
Manchmal auch Junk Food
Oder die Pubertätslektüre Marke „Freche Mädchen", auf die meine Tochter zeitweise stand. Muss offenbar eine Zeitlang sein, gibt sich aber wieder. Ich habe auch sämtliche Bände „Hanni und Nanni“ gelesen, ohne Schaden genommen zu haben. Es ist wie bei der Ernährung: Die Mischung macht's. Und wer regelmäßig Salat und Gemüse zu sich nimmt, darf ohne schlechtes Gewissen mal Junk Food essen.
Inzwischen sind Leo und Paulina 15 und 18 Jahre alt. Sie lesen immer noch gern, obwohl der Computer inzwischen eine große Rolle in ihrem Leben spielt (eine viel größere übrigens als das Fernsehen). Trotzdem bin ich sicher, dass sie ihr Leben lang Leser bleiben und dass Bücher immer eine wichtige Rolle für sie spielen werden.
Wer den Spaß am Lesen und die Liebe zu Büchern von Anfang an vermittelt und vorgelebt bekommt, hat auf jeden Fall einen Fuß in der Tür und den Zugang zu einer Welt, die Nicht-Lesern verschlossen bleibt. Inzwischen besitzen unsere Kinder Teile der Bibliothek, mit der ich aufgewachsen bin. Wie sehr wünschte ich, mein Vater hätte den Stolz und die Freude in ihren Gesichtern erlebt, als sie die von ihm geerbten Bücher in ihre Regale eingeordnet haben!
Amelie Fried