Von Sex schreiben , aber Liebe meinen
Über Gigolos in der Literatur allgemein und Helmut Kraussers neuen Berlin-Roman "Einsamkeit und Sex und Mitleid" im Speziellen
Sex verkauft sich gut, und Männer für gewisse Stunden haben noch immer einen gewissen literarischen Neuigkeitswert. Seit der Franzose Michel Houellebecq Gefühle unter dem Aspekt der Kostentransparenz durchleuchtete, ist der Verkauf des Körpers zum idealen Symbol für die wilde, neoliberale Kostenminmierung geworden.
Vor einem Jahr erzählte Norbert Kron in „Der Begleiter“ von einem Kulturjournalisten, der in Ermangelung von Schreibaufträgen als Gigolo anheuert. Eine Klasse zynischer als dieser smarte Zeitroman handelt Michal Hvoreckys „Eskorta“ von der slowakischen Nachwende-Ära (Klett-Cotta). Das Buch ist schwer zu rezensieren, weil es auf eine überraschende, aber völlig zwingende Pointe hinausläuft, über die sich jede Andeutung verbietet. Aber wir wollen nicht versäumen, bei dieser Gelegenheit darauf hingewiesen zu haben.
Kreuzberger Sittenbild
Auch in Helmut Kraussers Roman „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ tritt auf der ersten Seite ein Callboy auf. Aber der Autor interessiert sich im Unterschied zu Kron oder Hvorecky nicht für die totale Ökonomie des Lebens und der Gefühle. Hinter der kaltschnäuzigen Sprachmaske verbirgt sich ein Sensibler, der an die unmögliche Liebe glaubt.
Kraussers literarische Short Cuts fangen Berliner Durchschnittsschicksale aus Kreuzbergs näherer Umgebung ab. Eine frustrierte Ehefrau bekommt vom Genickschuss aus dem Farbkugelgewehr nach Jahren wieder einen Orgasmus. Ihr Gatte erhält von seiner Geliebten den Laufpass, weil ihm ihr haptisches Interesse am Mittelstück eines Mulatten im Swingerclub missviel. Ähnliche, weniger spektakuläre Herzensepisoden von Türken, Punkern und Lateinlehrern laufen nebeneinander her und werden kunstvoll zu einem Sittengemälde unserer cool sein wollenden Hauptstadt verwoben.
Vergurkter Schluss
Die Figuren denken oft an Sex, meinen aber die gute alte, gefühlsechte Romantik. Deshalb bleibt das Buch keusch, obwohl die Rede öfter auf Kondome und wachsepilierte Intimzonen kommt. Krausser garniert dies mit unnachahmlich treffenden Naturbildern wie dem „Geruch frischen Grases, durchwoben von einem Hauch ferner Hundescheiße“. Für solches muss man diesen Autor herzen. Aber blind macht es uns auch nicht: Den Schluss hat er vermurkst. Da fühlt ein Mann mit der Pistole allen Ernstes den „Finger einer bedingungslosen, umfassenden Liebe“ zu allen Dingen, Tieren und Menschen dieser Welt. Ach Gott, nee! Man blättert um und hofft auf eine letzte Volte, aber das Blatt ist leer. Es verbietet sich, von Opernkitsch zu sprechen, weil die einschlägige musikalische Neigung des Autors bekannt ist. Er weiß doch, dass Puccini sowas nie passiert wäre.
Robert Braunmüller
Helmut Krausser: „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ (DuMont, 223 Seiten, 19.95 Euro)
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