Von Menschen und Dingen
Das mondäne Berlin war weniger sein Ding. Kinder, die im Wasser pritscheln, fand Friedrich Seidenstücker viel interessanter. Einen im Stehen schlafenden Kutscher – oder drei Freundinnen, die sich spontan einen einzigen Mantel teilen. Das Alltägliche zog diesen Fotografen an. Aber auf ganz andere Weise, wie es etwa bei August Sander der Fall war, der ein paar Meter weiter hängt. „Menschen des 20. Jahrhunderts” hat er mit der Systematik eines Soziologen eingefangen, und die „Jungbauern” in schicker Sonntagskluft oder der ernst und konzentriert blickende „Maurermeister” mit den geschulterten Ziegeln zählen sicher zu den bekannten Höhepunkten der Ausstellung „Die neue Wirklichkeit”.
Experimentierfreudige 20er Jahre
Sie ist in der Pinakothek der Moderne – sichtbarer – Anfang einer außergewöhnlichen Zusammenarbeit: Die Kölner Ann und Jürgen Wilde haben ihre hochkarätige Sammlung zur Fotografie des 20. Jahrhunderts nach München gegeben. Die gut hundert Originale der Schau sind schon ein ziemlich schmackhafter Happen aus immerhin 6000 Objekten. Und sie zeigen, wie unterschiedlich dieses neue Feld Fotografie in den experimentierfreudigen 20er Jahren beackert wurde.
Denn neben den Milieustudien Seidenstickers etwa wirkt das Botanikum Karl Blossfeldts wie die fantastische Reise in eine fremde, hochartifizielle Welt. In den kannelierten Schachtelhalmen oder eingerollten Blättern der Weberdistel scheint sich ein nostalgischer Blick zurück zum Jugendstil zu manifestieren. Wie geschmiedete Ornamente wirken diese „Pflanzenurkunden”, und man versteht nur zu gut, weshalb der kunst- und besonders fotosinnige Walter Benjamin („Die kleine Geschichte der Photographie”, 1931) in diesem Zusammenhang von nicht absehbaren Grenzen sprach.
Schräge Perspektiven
Tatsächlich war in den Zwanzigern noch kaum ein Weg beschritten, fast alles neu und damit ungewöhnlich. Die schrägen Perspektiven der Florence Henri zum Beispiel, die mit irritierenden Spiegelungen arbeitet. Genauso wagt Germaine Krull, die spätere Kriegsberichterstatterin, einen gänzlich untouristischen Blick auf den Eiffelturm, der fast zur Achterbahn mutiert. Wobei mehr noch die Details aus Industrieanlagen genau das vorwegnehmen, womit Bernd und Hilla Becher in den 70er Jahren berühmt wurden. Und schließlich Albert Renger-Patzsch, der mit Blossfeldt und Sander zu den Begründern dieser neuen sachlichen Fotografie zählt: Die Strenge, mit der er das Wesen von Aluminiumtöpfen, Schuhleisten oder einfach nur ein paar Gläsern in engen Grenzen abzirkelt, beeindruckt heute noch in ihrer schlichten Kühnheit. Man wird von der Sammlung Wilde also noch viel Spannendes hören und vor allem sehen.
Bis 26. Juni 2011 in der Pinakothek der Moderne, Katalog 9,50 Euro
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