Vogelwilde Pferde
Auf der Flucht vor dem Umbau: Der „Blaue Reiter“ taucht ab in die Tiefen des Lenbach-Kunstbaus und zeigt sich mit Aquarellen, Zeichnungen und Druckgraphik überraschend vielseitig
Das Ambiente ist denkbar ungünstig für diese kleinen Formate. Und erst recht verlieren sich die feinen Bleistiftstriche, die zarten Tuschlinien oder die transparenten Aquarellfarben im unterkühlten Bahnhofshallenschlauch des Kunstbaus. Man muss schon genau hinschauen, um sich hineinziehen zu lassen in diesen „Tanz der Farben“, wie es im Untertitel der neuen Lenbachhaus-Ausstellung so romantisierend wie abgegriffen heißt.
Aquarelle, Zeichnungen und Druckgraphik des „Blauen Reiter“ sind hier unten zu sehen – der Betrieb muss ja auch während des Umbaus weitergehen. Wer allerdings nach ein paar Minuten gelernt hat, die Macht des Raums zu ignorieren, wird süperbe Entdeckungen machen. Lenbachhaus-Chef Helmut Friedel und Kuratorin Annegret Hoberg haben das Allerheiligste ausgebreitet: 130 Blätter der arg strapazierten „Blaue Reiter“-Heroen Franz Marc, August Macke, Alexej Jawlensky und ihrer sehr viel weniger bekannten Mitstreiter Eugen von Kahler, Albert Bloch oder Heinrich Campendonk, der vor allem durch Nachlass-Streitereien wieder ins Blickfeld gerückt ist (siehe links).
Bittere Weibsbilder
Das schließt ein paar Lücken. Nicht nur über den leidigen Farb- und Tiermythos hinweg, von dem sich ein Paul Klee erfrischend fern hielt. Unwillkürlich bleibt man hängen an seiner knorrig-vertrockneten „Jungfrau im Baum“ oder einer Tänzerin, deren Brustkorb wie ein Totenschädel anmutet. Und noch die düstere Nachdenklichkeit des Albert Bloch hat hier etwas beruhigend Sperriges. In subtiler Märchenhaftigkeit gerieren sich daneben Else Lasker-Schülers Lithografien um den Prinzen Jussuf. Und spätestens bei Robert Delaunays prismatischen Spielen sind wir doch wieder im Reich der tanzenden Farben. Und Formen.
Ergänzt werden diese Blätter, die auf nonchalante Weise Eindrücke vom Werkprozess vermitteln, durch eine exquisite Auswahl an Zeichnungen und Aquarellen von Wassily Kandinsky. Dessen „Blauer Reiter“ ziert bekanntermaßen den mit Franz Marc verfassten Almanach, der als oberbayerische Kunstbibel auch in dieser Schau nicht fehlt. Dafür sieht man nie Gezeigtes von Gabriele Münter, der verschmähten Lebensgefährtin, und eine fulminante Reihe von 20 Originalgraphiken Alfred Kubins: Morbides in all seiner Bedrohlichkeit, bitter dominierende Weibsbilder auf männerwiegemessernden Schaukelpferden, beißende Antikriegs-Manifeste in Tusche und wahnwitzige Endzeitbälle.
Die Vielfalt dieser 250 Blätter ist beeindruckend. Und wenn die Kunstbau-Wärter ein Einsehen haben, darf man sie auch goutieren. Aus der Nähe.
Christa Sigg
Der Blaue Reiter. Aquarelle, Zeichnungen, Druckgraphik, vom 19. Juni bis 26. September 2010 im Kunstbau des Lenbachhauses, geöffnet Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr, Katalog 29 Euro