Treibholz im Fluss des Lebens

Zerschlagenes Porzellan, gefallene Giganten und grandios-zweckfreie Möbel: Am Sonntag eröffnet Ai Weiweis große Ausstellung „So sorry“ im Haus der Kunst.
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Zerschlagenes Porzellan, gefallene Giganten und grandios-zweckfreie Möbel: Am Sonntag eröffnet Ai Weiweis große Ausstellung „So sorry“ im Haus der Kunst.

Als erstes fällt der Geruch auf: Das Haus der Kunst riecht anders als sonst, in den Hallen hängt der Duft von Rosen- und Zedernholz, von ferne strömt ein feines Teearoma durch den Saal. Der chinesische Künstler Ai Weiwei (52) verwendet sinnliche Materialien wie einen tonnenschweren Kubus gepresster Teeblätter und Hölzer, die zart duften bis stark riechen. Und er baut daraus Skulpturen und Raum-Installationen, deren Wirkung fast körperlich ist.

Seit Wochen geistern Fotos seines lädierten Schädels durch Internet und Weltpresse. Wohl wegen den Folgen der Misshandlung durch chinesische Polizisten musste er am Kopf operiert werden. Das stellte er sogleich als blutiges Readymade im Sinne von Duchamp, erweitert um den Beuys’schen Imperativ „Zeige deine Wunde“, aus.

Das lebende Gesamtkunstwerk

Leben, Kunst und Politik sind bei dem Kunst-Aktivisten und „Handy-Revolutionär“ („Spiegel“) eins, Biografisches und Überzeitliches gehen ineinander über. Dabei kannte den Künstler und findigen Amateur-Architekten aus Peking bis zur Documenta 12 hierzulande kaum einer. Als Miterfinder des Pekinger „Vogelnest“-Stadions, der sich von seinem Werk distanzierte, wurde er weltberühmt. Am kommenden Sonntag wird seine erste große internationale Einzelausstellung „So sorry“ im Haus der Kunst eröffnet. Und die bietet doch mehr als OP-Bilder und Twitter-Nachrichten – auch wenn Ai die neuen Medien eben effektiv zu nutzen weiß.

Die lapidare Entschuldigung im Titel bezieht sich nicht zuletzt auf sein Leben und das seines Vaters: Der Dichter Ai Qing, überzeugter Mao-Anhänger, fiel just in Weiweis Geburtsjahr in Ungnade, wurde mitsamt Familie in die Wüste verbannt, wo er weder lesen noch schreiben durfte, sondern Klos putzen musste. Ai Weiwei erlebte eine Kindheit als Ausgestoßener. Erst 1978 wurde Ai Qing rehabilitiert – mit einem knappen „Sorry“. Nicht einmal das bekamen die Eltern der vielen tausend Schulkinder, die beim Erdbeben in Sichuan 2008 starben. Darum recherchierte Ai ihre Namen – und erinnert mit den 9000 bunten Rucksäcken an der Fassade an sie.

Raffinierte Inszenierung

Doch neben der lauten Klage ist auch die leise Vergänglichkeit immer wieder Ais Thema, dem er auch mit Humor begegnet wie in „Dust to dust“, für das er Tongefäße zermalmte und den Staub in eine Glasurne füllte. Und sie hat, wie in der gewaltigen Installation „Rooted Upon“ im Mittelsaal, nichts Erschreckendes: Da liegen monumentale Wurzelstöcke, Treibholz aus Chinas Flüssen, deren Strukturen das Wasser ausgeschliffen und sichtbar gemacht hat. Es liegt etwas Tröstliches in der urzeitlichen Schönheit dieser von der Natur neu überformten gefallenen Giganten.

Ai verlässt sich auf die Sprache der Materialien, bei zerbrechlichem Porzellan oder stabilem Bambus. Und er weiß seine Werke so zu inszenieren, dass sie ihre Wirkung gegenseitig steigern: Unter den Bäumen liegt der „Soft Ground“, ein Wollteppich (an dem 50 Weberinnen 100 Tage lang webten), der die kaputten Bodenplatten des Nazis-Gebäudes imitiert – eine so aufwändige wie hintergründige Camouflage. Und von den Wänden schauen die 1001 Chinesen, die Ai 2007 zur Documenta nach Kassel einlud. In ihren Blicken liegt die Neugier auf den Aufbruch, sie konterkarieren das starke Sinnbild der Entwurzelung.

Seine kostbaren Materialien findet Ai im noch fortschrittsgläubigen China quasi auf der Straße. Seine Kunst führt auch den achtlosen Umgang mit der Tradition, den Wurzeln vor: Er zerschmeißt Han-Vasen oder bepinselt sie mit billiger Farbe. Aus dem Holz Jahrhunderte alter, abgerissener Tempel lässt er seine Mitarbeiter grandios-zweckfreie Möbel bauen: Hocker schweben wie Kampfkunst-Helden in der Luft. In seinem bildhauerischen Werk ist der Handy-Revolutionär Traditionalist im besten Sinne.

Roberta De Righi

Eröffnung und Gespräch mit Ai Weiwei, So ab12 Uhr; bis 17. Januar, Mo – So 10 bis 20, Do bis 22 Uhr; Katalog 19.95 Euro

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