Tiefpunkt der Ausbeutung
Alexander Kissler kritisiert Coaching-TV-Formate wie „Letzter Ausweg Wilder Westen“ und „Mädchen Gang“: „Sie inszenieren Lügen, die den Eindruck von Wahrheit vermitteln sollen.“ Von dem Medienexperten und Autor Kissler stammt das Buch „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet".
AZ: Herr Kissler, Coaching-TV boomt. Was finden Sie so schlimm daran?
ALEXANDER KISSLER: Das Privatfernsehen spielt sich als Obererzieher der Nation auf. Da muss man mal fragen: Woher nimmt ausgerechnet das Fernsehen die Legitimation und Kompetenz, um problembeladene Familien, Eltern, Kinder und Jugendliche öffentlich therapieren zu wollen? Schon in dieser Kompetenzanmaßung liegt ein Problem.
Es ist ja nicht ausgeschlossen, dass einem Teilnehmer geholfen wird. Ist das verwerflich?
Wir müssen zwei Ebenen unterscheiden: Die eine ist die Frage, ob den im TV mit ihren Problemen abgebildeten Menschen tatsächlich geholfen wird. Es gibt keine einzige Studie, die einen nachhaltigen Lernerfolg belegt. Bei der letzten Staffel von „Letzter Ausweg Wilder Westen“ hat RTL selbst zugegeben, dass höchstens bei zwei von sechs Jugendlichen eine Besserung feststellbar war. Die andere Frage ist, ob Zuschauer etwas lernen können. Ich glaube, dass Lerneffekte mit Krawall, Vorurteilen, Randale und künstlichen Emotionen nicht erreicht werden.
Aber weiß der Zuschauer, dass es sich hier um künstliche Emotionen handelt?
Die Sender bringen selbst gerne das Argument, die Formate seien ja entsprechend gekennzeichnet. Bei der „Mädchen Gang“ gibt es kurze Einblendungen wie „Szene nachgestellt“, wenn sie ihre Straftaten vorführen. Wir wissen aber aus Untersuchungen, dass ein kurzer Hinweis auf die Künstlichkeit der Veranstaltung nichts daran ändert, dass viele Betrachter die Szenen als Abbild der realen Welt wahrnehmen.
Ist es dem TV egal, ob sein Programm noch etwas mit Wahrheit zu tun hat?
Bei Unterhaltungsformaten hat sich das Fernsehen noch nie um die Wahrheit geschert – und das kann man ihm auch nicht generell vorwerfen, wenn es wirklich nur um Unterhaltung geht. Was man ihm vorwerfen muss, ist die Inszenierung von Lügen, die den Eindruck von Wahrheit vermitteln soll. Das geschieht vor allem durch sogenannte formale Elemente, wenn etwa bei „Letzter Ausweg Wilder Westen“ mit einer „Eltern-Kamera“ gearbeitet wird, oder mit vermeintlich echten Handy-Aufnahmen der verhaltensgestörten Jugendlichen.
Würde das Fernsehen entsprechende Formate liefern, wenn die Zurschaustellung von Betrug, Gewalt und Rassismus die beste Quote verspräche?
Ich sehe bei dem Trend, den wir vor allem im Privatfernsehen haben, in der Tat die Möglichkeit, dass sich die Dinge in diese Richtung entwickeln. Schon bei der „Mädchen Gang“ ist ein Schicksal besonders darstellenswert, wenn es ein besonders hohes Maß an krimineller Energie aufweist. So wird der Verstoß gegen Gesetze zur Eintrittsbedingung in das Medium Fernsehen.
Was also tun? Abschalten?
Ich rufe keineswegs dazu auf, dass jetzt alle den Fernseher aus dem Fenster schmeißen. Das Fernsehen ist nach wie vor das wichtigste Medium, dort finden die Debatten statt, die politisch wie gesellschaftlich die größten Auswirkungen haben. Ich plädiere dafür, dass jeder von Format zu Format für sich überprüft, was hier verhandelt wird und mit welchem Anspruch das Fernsehen auftritt. Wenn man zu dem Schluss kommt: Nein, diese Anmaßung will ich nicht unterstützen, dann sollte man umschalten.
Sie haben geschrieben, dass Sie das Fernsehen eigentlich mögen. Ist das noch so?
Zurzeit wird meine Fernsehliebe durch „Letzter Ausweg Wilder Westen“ und „Mädchen Gang“ auf eine sehr harte Probe gestellt. Mit diesen Sendungen ist ein neuer Tiefpunkt im Ausbeuten von Schicksalen erreicht, den ich mir vor einem Dreivierteljahr noch nicht hätte träumen lassen. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass jeder Trend mal an sein Ende kommt.
Michael Grill
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