Teju Cole über das Chaos in Nigeria
Überall stehen am Straßenrand Hinweisschilder: „Korruption ist strafbar. Das Bezahlen oder Annehmen von Schmiergeldern ist verboten.“ Tatsächlich aber ist der Geldfluss ohne wirkliche Gegenleistung in Nigeria gang und gäbe. Und die Grenzen zwischen Schmiergeld, Trinkgeld, Lösegeld und Almosen sind fließend.
Ein Vorgeschmack auf die Zustände, die ihn nach 15 Jahren Abwesenheit in seiner Heimat erwarten, hatte der 1975 in Amerika geborene Schriftsteller, Kunsthistoriker und Fotograf Teju Cole schon im Konsulat in New York bekommen: Als er seinen nigerianischen Pass erneuern will, fordert ihn der Schalterbeamte diskret, aber unmissverständlich zur Zahlung einer Expressgebühr auf – ohne Quittung. Anderenfalls könnte es sehr lange dauern mit den Papieren.
„Das Leben in Lagos ist das Gegenteil von beschaulich“
Innerhalb von 45 Minuten erlebt er auf dem Weg vom Flughafen Lagos in die Stadt drei Fälle von behördlicher Korruption. Rasch verfliegt die „Ekstase der Ankunft, dieses irrationale Gefühl, dass jetzt alles gut wird“.
In den folgenden vier Wochen wird er einiges zu sehen bekommen, was dem mit westlichen Werten vertrauten Mann nahezu verzweifeln lässt. Etwa die Tatsache, dass in Nigeria, einem der führenden Ölproduzenten, regelmäßig nachts der Strom ausfällt. Oder dass Straßen eher zum Parken als zum Fahren genutzt werden – mit endlosen Staus als Folge.
Während er sich durch den Moloch treiben lässt, schaut er mit offenen Augen auf den mühsamen Alltag der Leute, benennt die Missstände, registriert aber auch kleine Wunder: In einem Danfo, einem der stets überfüllten gelben Sammeltaxis, beobachtet er eine Frau, die seelenruhig einen Roman von Michael Ondaatje liest – ein Bild so selten „wie ein weißer Rabe“.
Wegelagerer, Abzocker, Schlepper und gewalttätige Banditen
Und natürlich zückt der Chronist immer wieder seine Kamera. Seinen mit rund zwei Dutzend Schwarz-Weiß-Fotos illustrierten Bericht „Jeder Tag gehört dem Dieb“ über das Leben in der Zehn-Millionen-Metropole hat der Autor, der am 27. Juni seinen 40. Geburtstag feiert, schon vor acht Jahren in Nigeria publiziert, vier Jahre vor der New York-Erkundung „Open City“ (deutsch 2012 bei Suhrkamp), mit der ihm der Durchbruch gelang und für die er und seine deutsche Übersetzerin Christine Richter-Nilsson 2013 mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet wurden. 2014 erschien eine Neuauflage von „Every Day Is For the Thief“ in Amerika.
In Lagos, dem „Big Apple Afrikas“, trifft Cole auf Wegelagerer, Abzocker, Schlepper und gewalttätige Banditen. Nüchtern zieht der Autor eine Zwischenbilanz seiner Reise in die verlorene Heimat: „Das Leben in Lagos ist das Gegenteil von beschaulich.“ Er trifft junge Männer, die in ihrem CD-Laden ausschließlich Raubkopien verkaufen. Er beobachtet ein achtjähriges Mädchen, das zu Fuß für die Familie Wasser kaufen geht – das Transportgefäß auf dem Kopf balancierend. Er schaut Sargbauern bei der Arbeit zu und wundert sich, wie wenig das Nationalmuseum die Geschichte Nigerias reflektiert und den blühenden Sklavenhandel im 19. Jahrhundert thematisiert.
Beim Besuch in der Hauptstadt Abuja bringt Cole seine Beobachtungen auf den Punkt: „Den Nigerianern fehlt manchmal das philosophische Rüstzeug, die materiellen Güter zu beherrschen, die sie so gern konsumieren wollen.“ Ihnen fehle „die Aufmerksamkeit für Details“ und „die Verpflichtung zur Genauigkeit“.
Schließlich gibt die Beobachtung, dass „der Glaube an Magie und an die Kräfte des Bösen weit verbreitet“ ist, einen Hinweis darauf, warum Boko Haram in diesem Land so mächtig werden konnte. Immerhin hat der neu gewählte Präsident Muhammadu Buhari der islamischen Terrorgruppe jetzt den Kampf angesagt.
Teju Cole: „Jeder Tag gehört dem Dieb“, aus dem Englischen von Christine Richter-Nilsson, Hanser Berlin, 175 Seiten, 18,90 Euro. Teju Cole liest am 18. Juni (20 Uhr) im Literaturhaus, Salvatorplatz 1.
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