Süßes und Saures aus dem Nationaltheater
Seit Georg Solti und Rudolf Kempe macht nach 50 Jahren Kent Nagano das Ballett ab Sonntag wieder zur musikalischen Chefsache.
Normalerweise überlassen Generalmusikdirektoren das Dirigieren von Balletten den Spezialisten. Ab Sonntag übernimmt Kent Nagano bei Musik von Maurice Ravel diesen Job. Für ihn ist es kein neues Terrain: In den 1970er Jahren hat er als Ballett-Repetitor gearbeitet.
AZ: Herr Nagano, verkauft sich der GMD bei Tanz nicht unter Wert?
KENT NAGANO: Das hängt von der Sichtweite ab. Das Nationaltheater vereint die Staatsoper, das Staatsorchester, den Chor und das Staatsballett unter einem Dach. Es ist konsequent, dass der Generalmusikdirektor versucht, die Musik in allen vier Einrichtungen zu positionieren.
Beim Ballett spielt die Musik doch stets die zweite Geige.
Vielleicht sind die Bedingungen für die Musik im Kontext Ballett beschränkter. Es wird auch nicht immer viel Zeit in die Vorbereitung der Musik investiert. Das liegt womöglich daran, dass an einigen Häusern der Tanz nicht immer ernst genommen wird. Unser Münchner Ballett geht auf die Zeit des Barock zurück. Es war für die Münchner Kultur immer von besonderer Bedeutung. Deswegen habe ich vor fünf Jahren versprochen, eine Produktion mit zu realisieren.
Wer hatte die Ravel-Idee?
Staatsballett-Leiter Ivan Liska. Er hat mit den beiden Choreografen Jörg Mannes und Terence Kohler auch die Werke ausgesucht. Die erste Hälfte des Abends vereint "Une barque sur l'ocean", das Konzert für Klavier linke Hand sowie die "Pavane pour une infante defunte". Im zweiten Teil wird das komplette "Daphnis et Chloe" gegeben. Das ist eine ungewöhnliche Konzeption und ein seltenes Ereignis.
Was ist anders, wenn man ein Ballett dirigiert?
Ich würde eher auf die Gemeinsamkeiten blicken. In Oper und Ballett muss ein Ensemble auf und mit der Bühne entstehen. Das bedeutet stets ein hohes Mass an Sensibilität, weil zusätzliche Dimensionen auf die Musik einwirken. Das hat Folgen für die Interpretation. "Daphnis et Chloe" sind 50 Minuten Ballett. Wie kann man diese grosse Form meistern, wie bildet man die Struktur für den Abend? Das ist hier die Herausforderung.
Hat München die Chance vertan, sich mit Ihnen als Staatsopern-GMD konsequent im Repertoire weiter zu öffnen?
Sie sind wirklich ein ungezogener Junge. Aber im Ernst: München zählt zu den weltweit grössten Bühnen und hat ein selten sensibles und kunstverständiges Publikum. Daraus resultiert eine Verpflichtung. Ich denke, für ein internationales Haus ist es wichtig, das ganze Spektrum von Meisterwerken zu reflektieren. Wir sind nun im 21. Jahrhundert und blicken auf das 20. Jahrhundert zurück. Heute ist die Musik des 20. Jahrhundert bereits alte Musik. Und wenn wir Meisterwerke aus dem 20. Jahrhundert und früher nicht so präsentieren, dass sich unser Publikum mit ihnen verbunden fühlt, dann werden wir unserer Tradition nicht gerecht. Die Tradition muss fortleben und sich immer wieder in Zukunft verwandeln.
Sie wirken entspannt. Liegt das auch daran, weil Sie entschieden haben, die Staatsoper 2013 zu verlassen?
Interessant, dass ich auf Sie so wirke. Ich blicke auf drei weitere Jahre in München. Das ist eine lange Zeit mit enormen Projekten. Die Herausforderung ist keinesfalls kleiner geworden. Ist es denn intern ruhiger geworden? Wissen Sie, Oper bedeutet immer Partnerschaft. Als ich mit Placido Domingo in Los Angeles zusammenarbeitete, hat Domingo einmal gesagt, wir beide seien eine süss-saure Mischung. Ich habe damals ergänzt: "Wobei die Frage ist, wer von uns beiden süss und wer sauer ist."
Marco Frei
Premiere: So., 21. November, Nationaltheater, 19.30 Uhr