Stunden der Lähmung

Am 23. Februar vor 30 Jahren stand die junge spanische Demokratie nach dem Putschversuch am Rand des Abgrunds. Das Buch „Anatomie eines Augenblicks” erzählt diese Geschichte
Volker Isfort |
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Die Verwunderung weicht in Sekundenschnelle der Angst. Am 23. Februar 1981 um 18.23 Uhr erstürmt Oberstleutnant Antonio Tejero das spanische Parlament, begleitet von bewaffneten Guardia Civil Beamten. „Alle auf den Boden”, schreit ein Putschist, Schüsse sind zu hören, Kalkstücke fallen von der Decke.

Alle Abgeordneten tauchen hinter ihren Sesseln ab, drei Männer nicht: Ministerpräsident Adolfo Suaréz, Vizepräsident General Manuel Gutiérrez Mellado und Santiago Carillo, Chef der Kommunistischen Partei. Es sind die drei von den Putschisten meistgehassten Männer, drei Menschen, die in diesem Augenblick absolut sicher sind, nur noch wenige Sekunden am Leben zu bleiben – auch wenn es dann ganz anders kommt. In Valencia fahren die Panzer auf die Straße, in Madrid besetzen Militärs das Staatliche Rundfunkgebäude. Im Zarzuela-Palast aber geschieht das von den Putschisten nicht Erwartete: König Juan Carlos – den manche für einen Mitwisser des Putsches halten – will als Oberbefehlshaber der spanischen Armee nun nicht eine Militärregierung unterstützen. Er telefoniert mit Generälen im ganzen Land, überzeugt sie, die Truppen in den Kasernen zu halten und schlägt sich in seiner legendären Fernsehansprache eindeutig auf die Seite der jungen Demokratie und die erst seit drei Jahren gültige Verfassung.

„Die Geschichte produziert seltsame Figurenkonstellationen”, schreibt Javier Cercas in seinem neuen Buch „Anatomie eines Augenblicks”. Ausgehend von den Biografien der Hauptakteure entwirft Cercas ein faktenreiches und hochdramatisches Panorama der jüngeren spanischen Geschichte. Es ist auch ein Buch der Entzauberung. Denn Cercas stellt den politischen Parteien und der spanischen Bevölkerung ein schlechtes Zeugnis aus. Niemand habe sich in den Stunden des Putsches auf die Seite der Demokratie geschlagen, es gab weder öffentliche Stellungnahmen noch Demonstrationen. Das ganze Land war eine lange Nacht lang wie gelähmt und löste sich erst nach der ausgestrahlten Ansprache des Königs allmählich aus der Angststarre.

Ein gelackter Aufsteiger

Dabei kam der Putsch nicht einmal überraschend. Das Land war innenpolitisch zerrissen, die Ölkrise hatte die Wirtschaft schwer getroffen, zudem drohte Spanien durch die Autonomiebewegungen im Baskenland, in Katalonien und Galizien zu zerfallen. Vor allem aber war auch sechs Jahre nach dem Tod des Diktators Francisco Franco und dem Ende einer vierzigjährigen Militärdiktatur Spanien ein Ort extremer politischer Gewalt. Fast 1000 Tote gab es durch links- und rechtsgerichtete Terrorgruppen, besonders durch die ETA. „Mit Franco lebten wir besser” war weit mehr als ein geflügeltes Wort, es traf die Stimmungslage weiter Teile der Bevölkerung, die sich – wie die Medien – einen Sport daraus machten, die gewählten Politiker zu verhöhnen.

Cercas’ Held in diesem romanhaften Sachbuch ist Adolfo Suaréz, „ein vollendeter Schauspieler: jung, athletisch, äußerst gutaussehend und stets gekleidet wie ein Verführer aus der Provinz, der das Entzücken aller rechtsgerichteten Familienmütter hervorrief”. Der galante und gelackte Aufsteiger aus dem Franco-Regime war es, der als Ministerpräsident urplötzlich seine Leidenschaft für die Demokratie entdeckte und auch vor der von den Militärs als „Todsünde” eingestuften politischen Konsequenz nicht zurückschreckte: Suaréz legalisierte am 9. April 1977 die Kommunistische Partei, weshalb nach den ersten demokratischen Wahlen seit 1936, am 15. Juni 1977, Menschen im Parlament saßen, die sich Jahrzehnte zuvor im Bürgerkrieg beschossen hatten. So wie beispielsweise General Gutiérrez Mellado und Kommunistenführer Carillo, die am 23. Februar in einem Nebenzimmer des Parlaments eine lange Nacht schweigend Seite an Seite verbrachten. Sie wurden bewacht und bedroht von bewaffneten Menschen, die noch nicht erkannt hatten, dass die Zeit der politischen Gewalt vorbei war. 18 Stunden nach dem Parlamentsüberfall ging der Putsch unblutig zu Ende, die Demokratie war gerettet.

Volker Isfort

Javier Cercas: „Anatomie eines Augenblicks” (S. Fischer, 570 Seiten, 24.95 Euro)

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