Stefan Bollmann über den Monte Verita

Der Münchner Autor Stefan Bollmann über die Ursprünge des Veganismus bei den Aussteigern auf dem Monte Verita und die Aussicht auf eine Gegenkultur der Alten
von  Robert Braunmüller
Der Autor Stefan Bollmann.
Der Autor Stefan Bollmann. © Christoph Mukherjee/dva

Der Münchner Autor Stefan Bollmann über die Ursprünge des Veganismus bei den Aussteigern auf dem Monte Verità und die Aussicht auf eine Gegenkultur der Alten

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts machte sich von München eine Gruppe von Aussteigern auf den Weg nach Süden. Sie ließen sich auf einem Hügel bei Ascona nieder, den sie Monte Verità nannten: Der „Berg der Wahrheit“ wurde in den kommenden Jahren zu einem Treffpunkt von Lebensreformern, Pazifisten, Künstlern, Schriftstellern sowie Anhängern unterschiedlicher alternativer Bewegungen. Manche der damaligen Ideen wirken bis heute weiter. Stefan Bollmann hat die Geschichte dieses Orts aufgeschrieben.

AZ: Herr Bollmann, alles beginnt in Schwabing – jedenfalls in Ihrem Buch.
STEFAN BOLLMANN: Das ist jedenfalls meine Vermutung. Die prägenden Figuren der Gruppe lernten sich 1899 beim „Sonnendoktor“ Arnold Rikkli im slowenischen Bled kennen. Nach intensiven Briefwechseln trafen sie sich dann in München. Sie entwickelten den Plan einer „vegetabilen Cooperative“, um der bürgerlich-zivilisierten Welt den Rücken zu kehren. Das alles gehört in den umfassenderen Zusammenhang der Lebensreform-Bewegung um 1900 herum.

Davon ist heute nur noch das Reformhaus geblieben. Was wollte die Bewegung?
Das 19. Jahrhundert hat den Körper in eng sitzender Kleidung versteckt. Die Lebensreformer setzen ihn in Kontakt mit Licht, Natur und Sonne. Sie versprachen sich davon eine heilende Wirkung. Ein Sonnenbrand galt als gesund. Dazu kam die Frage nach der richtigen Ernährung. Für andere war die Lebensreform eine Startrampe, um grundsätzlicher über das Leben und offene Liebesbeziehungen jenseits der Ehe nachzudenken.

Warum ging die Gruppe von München ausgerechnet nach Ascona?
Es liegt an der Schwelle von Norden und Süden. Ascona war damals ein Fischerdorf am Lago Maggiore, im Unterschied zum nahen Locarno, wo es ein Grand Hotel gab, das in der Übergangszeit im Frühjahr und Herbst viel besucht wurde. Und die Gegend hatte schon immer Rebellen angezogen, unter anderem russische Anarchisten wie Michail Bakunin.

Wie muss man sich den Monte Verità vorstellen?
Als etwa 100 Meter hohen Hügel am See und ehemaligen, von der Reblaus ruinierten Weinberg, über den Schafe und Ziegen getrieben wurden. Der Schwabinger Gruppe um die Musiklehrerin Ida Hofmann, den belgischen Industriellensohn Henri Oedenkoven und den Brüdern Karl und Gusto Graeser wurde dieses Land zum Kauf angeboten.

Warum wurde der Monte Verità so berühmt?
Die Lebensreformer hatten ein enges Netzwerk, das durch Zeitschriften und Mundpropaganda zusammengehalten wurde. Auf diese Weise lief die Nachricht vom Siedlungsprojekt am Monte Verità schnell um die Welt. Schon 1903 erschien ein Beitrag in einer anarchistischen Zeitschrift in San Francisco. Und er zog Schriftsteller wie Hermann Hesse und Künstlerinnen wie Marianne von Werefkin an.

Wie muss man sich das Leben am Monte Verità vorstellen?
Die Ziele der Gründer waren wenig einheitlich. Die Gebrüder Graeser wollten in selbst gebauten Hütten leben und sich selbst versorgen. Oedenkoven und Ida Hofmann dachten eher an ein Sanatorium mit Licht- und Luftanwendungen. Hier sollten all jene diffusen Leiden behandelt werden, gegen die die damalige Medizin keine Handhabe hatte, etwa die Neurasthenie, die wir heute als Burn-Out bezeichnen würden. Aber sie dachten auch an die Heilung von Geschlechtskrankheiten.

Sie waren nicht die ersten Aussteiger.
Die Idee zu solchen sich selbst versorgenden Gemeinschaften mit viel Raum für Selbstverwirklichung gibt es schon im Frühsozialismus, etwa bei Charles Fourier. Er dachte daran, den Kindern in der Kommune die Abfallentsorgung anzuvertrauen, weil sie so gerne im Dreck spielen.

Was ist vom Monte Verità geblieben?
Hier wurde der Veganismus erfunden. Das Wort gab es damals noch nicht. Man sprach vom „Vegetabilismus“ und verzichtete nicht nur auf Fleisch und Fisch, sondern auch auf Milch, Käse und Eier. Die Ernährung beschränkte sich auf Früchte, gedünstetes Gemüse, Linsen und Nüsse. Teilweise wurden auch exotische Früchte importiert, weshalb man durchaus von einem Luxus-Veganismus sprechen kann. Außerdem hat Mary Wigman am Monte Verità den modernen Ausdruckstanz erfunden, der – gegebenenfalls auch ohne Musik, den individuellen Körperausdruck in den Mittelpunkt stellt.

Auch Oskar Maria Graf war kurz dort.
Den hat weniger die Lebensreform angezogen, sondern der Anarchismus. Erich Mühsam hat mehrere Sommer hier verbracht. Oskar Maria Graf versuchte, den schlimmen Arbeitsbedingungen in einer Mühle zu entkommen. Er hat sich von seinem letzten Geld eine Bahnfahrkarte gekauft. Das war zu einer Zeit, als um das Sanatorium herum weitere freie Lebensgemeinschaften entstanden.

Eine Spur führt von Ascona auch zum Apple-Gründer Steve Jobs.
Auf dem Monte Verità lebte zeitweise der Hungerkünstler und Heilfaster Arnold Ehret. Er war der Ansicht, alle Krankheiten bis zum Krebs würden durch eine falsche Ernährung ausgelöst, die den Körper verschleime. Er floh vor dem Ersten Weltkrieg als Kriegsdienstverweigerer nach Amerika. Seine schleimfreie Diät war ein großes Ding während der Hippie-Bewegung, als man wieder begann, aufs Land zu ziehen und in Sandalen herumzulaufen. Steve Jobs war Ehretianer. Er arbeitete zeitweise auf einer Apfelplantage, hielt diese Ernährungstheorie für das einzig Wahre und praktizierte sie auch missionarisch. Deshalb nannte er seine Firma Apple. Der erste Computer wurde nach der Apfelsorte Macintosh benannt.

Auf dem Monte Verità trafen sich nicht nur Veganer, sondern auch Esoteriker.
Die Lebensreform war auch eine spirituelle Suche. Ihre Anhänger konnten mit der herkömmlichen Religion nicht viel anfangen. Viele fühlten sich von der Theosophie angezogen, einem Amalgam verschiedenster spiritueller Richtungen. Die aus Russland stammende Madame Blavatsky behauptete, eine diesbezügliche Offenbarung erhalten zu haben. In Wirklichkeit hat sie sich aus dem Hinduismus, Buddhismus und Christentum etwas zusammengeschnitzt.

Warum machte das Furore?
Ich denke, weil in der Theosophie Frauen federführend waren. Ich würde nicht von einer feministischen Religion sprechen wollen. Aber sie entspricht den spirituellen Bedürfnissen von Frauen offenbar mehr wie die Männerreligionen Christentum oder Islam. Deshalb ist die Theosophie auch heute noch interessant.

Nur Rudolf Steiner war offenbar nie am Monte Verità.
Ich bin kein Kenner der Anthroposophie. Aber ich würde sagen, er hat den ganzen Weiberkram abgelehnt und die Theosophie domestiziert – auf Männerbedürfnisse hin.

Wie endete das Projekt am Monte Verità?
Schon 1906 beging eine der Gründerinnen Suizid, mit Gift, das der Psychoanalytiker Otto Gross so liegengelassen hatte, dass sie es finden konnte. Das Sanatorium überlebte alle Krisen bis 1920, obwohl es nie Gewinn abgeworfen hat. Später lebten Berliner Bohemiens dort. 1926 kaufte der Bankier und Kunstsammler Eduard von der Heydt das Gelände und wandelte es zu einer Art Wellnesshotel um. Man lief noch immer im Licht-Luft-Hemd herum, aber es war eine Schicki-Micki-Variante der Gründungsidee. Von der Heydt ließ aber auch die Geschichte des Orts aufschreiben. Ohne ihn wäre der Monte Verità vergessen.

Wie sieht es dort heute aus?
Die Villa der Gründer, die Casa Anatta, steht noch. Dort ist ein Museum zur Geschichte des Bergs untergebracht – und die Reste einer legendären Ausstellung des Kurators Harald Szeemann über den Berg. Im Hotelbau aus der Zeit von der Heydts ist heute ein Kongresszentrum der TU Zürich untergebracht. Es gibt auch vergleichsweise preiswerte Zimmer für 60 Franken mit Frühstück. Allerdings ist da die Aussicht auf den See nicht ganz so grandios. Die subversive Kraft des Orts spürt man nicht mehr – der Berg ist bebaut mit Villen und Eigentumswohnungen.

Wie könnte ein Monte Verità heute aussehen?
Ich denke, die nächste Gegenkultur kommt von den 70-jährigen, die keine Lust mehr haben auf unsere Konsum- und Leistungsgesellschaft. Die neue Generation alter Menschen hat in ihrer Jugend nicht revoltiert. Aber die schiere Not wird Leute meines Alters zwingen, ihre Lebensverhältnisse zu ändern. Es gibt auch in Deutschland verlassene Gegenden. Dort kann man ein altes Bauernhaus kaufen und einen eigenen Monte Verità aufziehen, Ich habe den Verdacht, dieses Lebensmodell ist im Kommen. Robert Braunmüller

Stefan Bollmann: „Monte Verità: 1900 – der Traum vom alternativen Leben beginnt“ (DVA, 320 S., 20 Euro)

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