Sony Music veröffentlicht Bob Dylans Frühwerk auf CD
Hat Bob Dylan es diesmal zu weit getrieben? Regen sich die Leute zu Recht über ihn auf? Verdient er die Lobpreisung überhaupt oder ist er ein künstlerischer Hochstapler? Er hat es jedenfalls in alle Zeitungen gebracht mit seiner störrischen Verweigerung, das zu tun, was alle Welt von ihm erwartet. Im Jahr 1966 wohlgemerkt. Fünfzig Jahre, bevor Bob Dylan den Literaturnobelpreis gewann, beschwieg und nicht abholte.
Der Preis wird am Samstag in Stockholm verliehen, in Dylans Abwesenheit. Über seine Nonchalance regen sich viele auf, allen voran sicherlich die Düpierten in Stockholm. Für die Marketingabteilung von Sony Music trifft es sich freilich gut, gerade – und schon lange anberaumt – das Box-Set „The 1966 Live Recordings“ veröffentlicht zu haben. Auf der Box sind allerhand Zeitungsartikel abgedruckt, in denen zu lesen ist, wie sich die Leute 1966 über diesen frechen Dylan empörten: Von einem „zerstörten Idol“ ist die Rede, einem „Betrüger“, vom „großen Buhen“.
1966 empörten sich die Fans über Dylan Rockmusik
Was war passiert vor fünfzig Jahren? Dylan hatte auf seine Welttournee eine Rockband mitgenommen. Und in England ging das Buhen los: Die Puristen im Publikum liefen Sturm dagegen, dass das Folkidol neuerdings Rockmusik spielte. In Manchester schrie ein Zuschauer „Judas“, und dieser tausendfach zitierte Zwischenruf war durchaus sinnbildlich: Denn die Folkies hatten in Dylan ihren Jesus gesehen. Doch der hatte einfach keinen Bock, der Erlöser zu sein. Er wollte rocken.
Ganze Bücher sind über diese legendäre Tour geschrieben worden. Die Musik ist durch einen Bootleg des Manchester-Konzerts (mit dem Judas-Ruf) seit vielen Jahrzehnten bekannt, 1998 wurde der Mitschnitt dann offiziell veröffentlicht. Auf den 36 CDs der neuen Box kann man jetzt jede Sekunde der Tour hören, die auf Tonband erhalten ist: Die Aufnahmen entstanden bei 23 Auftritten, 13 davon wurden fast vollständig mitgeschnitten. Manche wurden damals für ein geplantes Live-Album professionell aufgenommen, die meisten sind jedoch einfache Mischpult-Mitschnitte. Sie alle wurden kompetent gemischt und klingen gut. Dazu kommen einige verrauschte Publikumsaufnahmen mit nur dokumentarischem Wert.
CD-Box lässt bizarre Welttournee nacherleben
Diese historisch-kritische Gesamtausgabe einer Welttournee erschlägt den Hörer erst mal. Schießlich spielte Dylan fast immer die gleichen Lieder: sieben Songs mit Akustikgitarre vor der Pause, danach acht mal stürmischen Rock’n’Roll mit den Hawks, der Band, die später The Band wurde, hier mit Aushilfsdrummer Mickey Jones. Diese Songs immer wieder zu hören muss selbst Fans und Dylanologen erschöpfen.
Und doch ist es faszinierend, diese bizarre Tour nacherleben zu können. Dylan spielte damals bereits seit fast einem Jahr mit Band, hatte zwei Rockalben veröffentlicht, die Hitsingle „Like A Rolling Stone“ – und trotzdem zahlten Zuschauer Eintritt, um beim elektrischen Teil Rabatz zu machen: Wutfans! Sie waren freilich in der Minderheit, die meisten applaudierten. Und doch reagierte Dylan auf die Störenfriede nur manchmal cool, meist aber dünnhäutig. Mal empfiehlt er den Buh-Rufern, rauszugehen und ein Buch zu lesen. Mal sagt er entschuldigend, dass er seine alten (Folk-)Songs immer noch möge. Mal bricht er eine Ansage ab, nur weil ein Alt-Fan dazwischen ruft. Und einmal fragt er die Zuschauer sogar selbstmitleidig, ob sie denn mit ihm tauschen würden wollen. Dylans Nerven lagen Abend für Abend blanker. Das hatte wohl auch mit seinem Drogenkonsum zu tun. Denn dass der nuschelnde Mann jeden Abend stoned war, hört man nämlich ebenfalls.
Mal klingen die Songs zart, mal wild und hart
Die Box lohnt sich aber vor allem wegen der Musik, in der richtigen Dosierung ist sie ein großes Vergnügen. Im akustischen Teil variiert Dylan Abend für Abend nobelpreiswürdige Songs wie „Mr. Tambourine Man“, „Just Like A Woman“, „Desolation Row“ – besonders toll zum Beispiel in Liverpool – oder „Visions of Johanna“: Mal singt er das Stück mit schlichter Zärtlichkeit, dann wieder zieht er die Töne in die Länge, bis sie fast halluzinogene Wirkung haben.
Mit der Band spielte Dylan den wildesten, härtesten Rock seiner Karriere. Gitarrist Robbie Robertson setzte seine eckigen Licks fast immer haarscharf neben den Beat, Garth Hudson friemelt verrückte Kirmes-Läufe aus der Orgel, und Schlagzeuger Mickey Jones drischt immer und immer wieder unerbittlich auf den ersten Taktschlag zu, in dem sich die ganze Aggression der Combo entlädt. So hat keine andere Band jemals gespielt, weder vorher noch nachher. „Like A Rolling Stone“ entwickelt auf diese Weise eine besondere Wucht. Die Version übertrifft die Plattenversion zwar nicht an Brillanz, aber an Intensität. Und das Abend für Abend mehr: Je entnervter Dylan ist, umso leidenschaftlicher rockt er. „Ballad of A Thin Man“, der musikalische Höhepunkt sämtlicher Shows, wird dagegen immer gespenstischer. Der Sound wird majestätischer, die Blues-Licks erhabener, der Gesang galliger, der Hall spukiger.
Am vorletzten Abend in England, in London, klingt all das besonders toll. Wem die Box zu teuer oder anstregend ist, der kann einen Mitschnitt dieses Konzert als Doppel-CD kaufen. Das ist eine gute Alternative – mit einem kleinen Wermutstropfen: Am Abend danach, ebenfalls in London, lagen Dylans Nerven noch freier – das Konzert war das allerbeste.
Bob Dylan, „The 1966 Live Recordings“ (36 CDs, 113 Euro) und „The Real Royal Albert Hall Concert“ (2 CDs, 20 Euro), erschienen bei Sony Music.
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