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Über dem Meeresspiegel ist nichts sicher: Juli Zeh lässt in ihrem neuen Roman „Nullzeit” einen Tauchlehrer in ein Beziehungsdreieck schlittern.
Michael Stadler |
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Über dem Meeresspiegel ist nichts sicher: Juli Zeh lässt in ihrem neuen Roman „Nullzeit” einen Tauchlehrer in ein Beziehungsdreieck schlittern und spielt mit den Möglichkeiten des Erzählens

Schon eine kleine Denkaufgabe, ja, ein einziges Wort kann das Leben in eine neue Richtung lenken. Den Namen des Philosophen Montesquieu soll Sven bei seiner Juraprüfung durchbuchstabieren, ein Professor nötigt ihn dazu, und Sven scheitert dabei, besteht aber die Prüfung letztlich mit Bravour. Svens Entschluss steht dennoch fest: Er will nichts mehr mit dem Rechtsbetrieb zu tun haben, will raus aus Deutschland, wo über alles und jeden geurteilt wird, hin zur Natur, zum Meer.

Davon, wie der Ich-Erzähler Sven dazu kam, Tauchlehrer auf einer abgelegenen Atlantikinsel zu werden, erfährt der Leser von Juli Zehs neuem Roman „Nullzeit" recht früh nach vierzig Seiten. Da steckt Sven schon inmitten eines Dreiecks, bestehend aus ihm und zwei Kunden, einem Promi-Paar, das er zwei Wochen lang für eine stattliche Bezahlung auf Tauchgänge mitnehmen soll. Eine neutrale Haltung lässt sich jedoch nicht bewahren: Sven wird die Beziehungszeichen des Paars sehen und lesen, und der Reiz von Zehs Buch liegt auch für den Leser darin, sich eine Meinung zu bilden, zu entscheiden, wo die Wahrheit dieser Geschichte liegt. Denn Zeh überlässt einem die Wahl zwischen der Perspektive Svens, der im Rückblick von den Geschehnissen erzählt, und den Tagebucheinträgen der Schauspielerin Jola, die sich von Sven unterrichten lassen will, um sich für ein Casting vorzubereiten. Sie könnte vielleicht die Tauchlegende Lola Hass in einem Film spielen, eine Traumrolle und die Chance, dem Mittelmaß ihrer Existenz zu entkommen.

Ein ziemliches Klischeebild ist diese Jola, perfekter Körper, überdreht, flatterhaft, gekünstelt, eine Aktrice von Daddies Gnaden (der Vater ist ein adlig-reicher Filmproduzent) und flankiert von ihrem älteren Lebenspartner, dem 42-jährigen Buchautoren Theo, der gleichfalls schnöselig zu einem Kulturbetrieb gehört, in dem das Bohei, das man um sich selbst und seine geplanten Werke macht, mehr zählt als das Sein, was hinter dem Schein steckt. Ein Wechselspiel der gegenseitigen Demütigung, des Sich-Gefährdens und Dann-Doch-Liebens spielt dieses Paar, in das der brav mit seiner langjährigen Lebenspartnerin verbundene Sven mir nichts dir nichts verwickelt wird. Sadomasochismus scheint ja en vogue in den Beziehungen zu sein, mindestens in der Literatur, und so entwickelt sich Zehs Roman zu einem erotischen Noir-Stück zwischen drei Positionen, mit Theo als dem prügelnden Ehemann, der das Zeug zum Psychopathen hat, Jola als potenzieller Femme fatale und dem Tauchlehrer Sven als Dritten, der von Jola verführt wird und womöglich gar nicht so unschuldig ist.

Dass Sichtweisen relativ und parallele (Erzähl-)Welten möglich sind, davon hat Zeh schon in früheren Romanen, besonders in „Schilf” erzählt. Wurden ihre bisherigen Werke in ihrer räumlichen wie zeitlichen Übersichtlichkeit inklusiver interessanter philosophischer Ansätze gerne fürs Theater entdeckt, so kann man sich diesen Insel-Krimi durchaus verfilmt vorstellen, wobei die Ambivalenz der auseinanderstrebenden Perspektiven schwer zu übertragen sein wird. Doch erst mal das Buch: In „Nullzeit” spielt Zeh ihre Themen in einem spannenden, gut konstruierten Noir-Thriller durch, übt sich in der Verwendung des Taucher-Fachjargons und der Einfühlung zweier Figuren, durchaus überzeugend auch der männlichen, und entwickelt dabei gehörig Zug bis zum Finale auf hoher See.

Zu seinem 40. Geburtstag will Sven ein gesunkenes Schiff erkunden. In seiner Erforschung der Ruine findet der Roman nochmal zu einem retardierenden Moment, einem Augenblick des Durchatmens unter Wasser. Hier zählt nur das, was der wissbegierige Taucher vor Augen bekommt: eine Unterwasserwelt der vielfältigen Formen und messbaren Tiefen, während über dem Meeresspiegel die moralische Unbestimmtheit, das beklemmende Ungewisse unserer Zeit wütet.

Juli Zeh: „Nullzeit” (Schöffling, 256 Seiten, 19.95 Euro)

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