Sie küssen und sie schlagen sich
Pina Bauschs neuer namenloser Tanzabend wurde in Wuppertal uraufgeführt
Eine Uraufführung von Pina Bausch ist nicht einfach nur Premiere, sondern jährliches Wallfahrtsziel. Hier treffen sich Gläubige mit Bekehrten, und nur wenige von ihnen entgehen dem Wangenkuss-Ritual, das Kenner und Konvertiten eint noch ehe das erste Bein auf der Bühne gehoben ist. Letzteres wird im neuen Stück (traditionsgemäß noch ohne Titel) dann tatsächlich gemacht, denn die mit einem Festival in Chile koproduzierte Aufführung zeigt am Anfang und am Ende eine Tänzerin auf allen Vieren, bei jeder Berührung aufheulend wie ein Präriehund. Melancholie mit Empörungspotenzial. Dazwischen darf der Zuschauer jedoch in der Wunderwelt des Bausch-Humors Gassi gehen.
Der Programmzettel, welcher Informationen über die Gedanken der weltweit preisgekröntesten Tanz-Ikone natürlich strikt verweigert, zeigt ein vielsagendes selbstgeknipstes Foto. Das Ensemble auf Hochlandpartie im kargen chilenischen Gebirge. Lauter klitzekleine Figuren in gewaltiger Natur. Pina Bausch zoomt sie raus aus ihrer Anonymität – und siehe da, sie haben auch ihre elegante Abendgarderobe von Marion Cito eingepackt. Fließende Gewänder, dunkle Anzüge, gerne Stöckelschuhe auch mal für den Herrn. Nur bei der kräftig ins Emotionale greifenden Musikauswahl ist Chile-Shopping deutlich erkennbar.
Kuss-Sport macht nicht glücklich
Natürlich erzählt Pina Bausch ihre ewige Geschichte von einsamer, körpersprachlich geschüttelter wie gerührter Leidenschaft weiter (eine neue Kette feinstens geschliffener Solo-Auftritte) und verknüpft die Einzelgänger – etwas zögernd zwar vor lauter fundamentaler Elegie, aber dann doch mit aller Energie – zu Beziehungsgeflechten, in denen es scheppert. Selten so viele Ohrfeigen in einem Stück gesehen, die stolzierenden Herren schauen bei jedem Emanzipationsschlag wieder verwundert. Aber sie werden ja auch geknutscht. Der Original-Zweitcasanova, der das ganze weibliche Ensemble zum Flirt-Spalier einzeln an sich und seinen Sprüchen vorbeiziehen lässt. Oder sein Kollege in der Defensive, wenn die Partnerin mit allen Sprungtechniken des Balletts heranwirbelt, was immer wieder mit einem schmatzenden Kuss endet. Ganz glücklich wird der Kavalier mit solchem Kuss-Sport nicht.
Auf der überwiegend leeren Bühne von Peter Pabst, wo sich in aller Stille die Bodenplatten, auf denen alles passiert, wie bei einem Erdbeben verschieben, wird das alte Kampfspiel also neu justiert. Männer tragen Frauen, die in ihren Ausdruckstanz-Explosionen mit fliegenden Haaren und wehenden Gewändern ihrer Fantasie so sehr entgegenkommen, in die Standard-Positionen der Makellosigkeit. Aber dabei bleibt es eben nicht, was zu hektischen Rundlauf-Rasereien der Entmachteten führt. Compagnie-Senior Dominique Mercy kann die hitzige Jugend nur bremsen, indem er sich an ihrer Jacke festkrallt.
Die Sprache ist weniger wichtig geworden bei Pina Bausch, sogar die Sketche brauchen kaum Worte. Wobei die Dominanz der Solo-Bravour den Abend zeitweise in einen hochklassig ins Leere laufenden Vignetten-Wirbel zieht. Das ist vorbei, wenn alles im großen Sitz-Tableau mit gegenseitigem Haar-Kraulen mündet. Wenn Korken weitgespuckt, Ohrfeigen verteilt und der ewige Kreislauf von Anspringen und Abstoßen ausgereizt ist und eine Kollektiv-Rumba in Bauchlage, nur mit Hand und Kopf getanzt, das Unvergleichliche dieser Choreografin auf den Punkt bringt. Dann wieder das Ritual: Bravo-Stürme für die wunderbare Compagnie, ruckartige Standing Ovations beim Erscheinen der Meisterin und – da amüsierte sich die Gemeinde nicht schlecht – ein einsam wütender Buh-Rufer. Pina Bausch, deren größte Kunst im Sortieren von Bewegungseinfällen besteht, steuerte ihr bestes Sphinx-Lächeln bei.
Dieter Stoll