Sex? Aber bitte klassisch!
Wenn es nebenan „Ta ta-ta-ta ta ta-ta-ta ta ta” trommelt, dann wissen Sie: Ihre Nachbarn vergnügen sich fleischlich. Oder: Damit jeder denkt, sie täten es, legen sie Maurice Ravels „Bolero” auf – jene große Steigerung für Orchester über einem ständig wiederholten Trommelrhythmus, die mit einem Orgasmus explodiert.
Ein erotisches Symbol ist das Werk schon seit seiner Uraufführung als Ballett: 1928 tanzte in der Pariser Oper die lebenslang freizügige Ida Rubinstein. Igor Strawinsky hielt sie zwar für die dämlichste Frau der Kunstwelt, aber andere beschrieben sie als faszinierende Schönheit, was sich ja nicht ausschließen soll. Teil der Popkultur wurde der Bolero durch eine Verführungsszene aus dem Film „Die Traumfrau” mit Bo Derek. Weil viele Menschen den Effekt selbst ausprobieren wollten, waren Platten des Stücks nach dem Kinostart im Jahr 1978 lange ausverkauft.
Aber nun heißt es umdenken. Ätherische Chorklänge aus der Nachbarwohnung sind kein Indiz für neue Spiritualität, sondern deuten auf sadomasochistische Praktiken. Schuld ist natürlich „Shades of Grey”, jener Softporno mit einer Auflage von weltweit 15 Millionen Exemplaren. Darin bildet das Chorwerk „Spem in alium” von Thomas Tallis eine Art Leitmotiv.
Die 40-stimmige Motette für acht Chöre zu je fünf Stimmen entstand um 1570. Auch der Bibel-Text aus dem Buch Judit ist ausreichend devot: „Ich habe niemals meine Hoffnung in irgendeinen anderen als dich gelegt”, heißt es am Anfang. „Spem in alium” gilt als zentrales Werk der Renaissance-Musik – eine Aufnahme mit den Tallis Scholars hat nun Luciano Pavarotti vom Platz 1 der britischen „Classical Singles Chart” verdrängt.
Natürlich lässt dieser Erfolg die Musikindustrie nicht ruhen: Am 14. September erscheint bei EMI ein Soundtrack zu „Shades of Grey”, persönlich zusammengestellt von der Autorin E. L. James. Neben Tallis findet sich da etwa das aus der Marmeladenwerbung bekannte Blumenduett aus der Oper „Lakmé” und ein langsamer Satz aus einem Klavierkonzert des Groß-Romantikers Rachmaninow.
Dass auch Bachs frommer Choral „Jesus Christus meine Freude” Sadomasochisten in Stimmung bringt, überrascht. Ultimative Erotica der Klassik wie das Vorspiel zum „Rosenkavalier” oder – für Turbo-Rammler – die einschlägige Szene aus Schostakowitschs Oper „Lady Macbeth von Mzensk” fehlen dafür. Wer im Schlafzimmer Musik hört, bevorzugt offenbar nicht zu aufregende Klänge. Mick Jagger ist dafür der beste Zeuge: Er bekannte, von indischer Raga-Musik besonders angetörnt zu werden, und die ist für westliche Ohren eher gleichförmig.
Der Hamburger Sexprofessor Werner Habermehl empfiehlt dagegen Mozarts „Jupiter”-Symphonie. Beim Kauf sollte man aber darauf achten, dass der Dirigent vorgeschriebene Wiederholungen beachtet, sonst ist es mit der Lust allzuschnell vorbei. Aber es gibt auch Stimmen, die von reifen Klängen im Schlafzimmer überhaupt abraten: „Jedenfalls hat mich klassische Musik noch nie zum Geschlechtsverkehr veranlasst”, versicherte der Tenor René Kollo einmal in einem Interview.
Der Berliner ist halt ein typischer Mann. Nach einer Untersuchung der Hamburger Gesellschaft für Sozialforschung bevorzugen 31 Prozent der Männer in einschlägiger Stimmung ohnehin Rap, während 30 Prozent der Frauen klassische Klänge bevorzugen. Was wieder einmal den Verdacht bestätigt, dass Männer und Frauen nicht zusammenpassen.
Unsere Empfehlung: Alessandro Striggio, „Mass in 40 Parts”, mit „Spem in alium” von Thomas Tallis auf der Bonus-CD, I fagiolini (Decca)