Senta Berger: Mit der Reife jünger
Senta Berger über ihren Grimme-Preis und ihre neue Folge von „Unter Verdacht“, diesich mit geistigen Missbrauchsfällen in einem Jungeninternat auseinandersetzt
AZ: Frau Berger, herzlichen Glückwunsch zum Grimme-Preis. Wenn man so viele Auszeichnung bekommen hat wie Sie, hat dann ein einzelner Preis noch Bedeutung?
SENTA BERGER: Ich Freude mich über jeden Preis, den ich erhalte. Aber am nächsten ersten Drehtag hat man vollkommen vergessen, dass man jemals eine Auszeichnung bekommen hat. Ich kann mich noch erinnern, wie ich nach längerer Babypause mit weichen Knien zum ersten Drehtag gefahren bin, und meine Mutter mir hinterher rief: „Das verlernt ma ned. Das is wie Radlfahrn.“ Aber am ersten Drehtag hat man immer das Gefühl, dass man es verlernt hat und dann fasst man langsam wieder Tritt.
In der Dankesrede zur Goldenen Kamera, die Sie auch für „Frau Böhm sagt Nein“ bekommen haben, sagten Sie: „Ich bin nicht mehr jung, aber mit der Reife wird man immer jünger.“
Das ist ein Satz aus dem Hesse-Hörbuch, das ich aufgenommen habe. Und der Text geht weiter: „Obwohl, mein Gefühl ist immer noch das gleiche des kleinen Knabens. Mir ist, als würde ich das Erwachsensein nur gespielt haben.“ Das ist auch für mich wahr. Ich staune über Zahlen, die mich betreffen sollen. Wenn Leute sagen, „Sie gibt’s ja schon seit...“, bleibt das für mich absolut abstrakt. In mir ist immer noch ein Teil dieses kleinen Mädchens, das auch ein bisschen unsicher ist. Manches Mal wünschte ich mir, das wäre nicht so. Künstlerisch gesehen ist das nicht schlecht. Im Privaten aber wäre ich oft gerne etwas gelassener.
Eva Prohacek begleitet Sie seit 2002. Sind Sie am ersten Drehtag eines „Unter Verdacht“-Krimis deshalb ein bisschen gelassener?
Ja, ich ziehe mir Evas Garderobe an und sie passt einfach. Ich weiß, wie sie ist, wie sie geht und wie sie sitzt – immer gerade und angespannt – und das ist beruhigend. Der erste Drehtag ist aber immer schwierig und nur dazu da, dass man endlich den zweiten hat.
Eva Prohacek ist schon fast gerechtigkeitsfanatisch. Erkennen Sie sich da?
Ja, aber so konsequent wie Eva bin ich nicht. Doch sie muss ja so sein, damit der Gegenpart des Dr. Reiter – ein windiger Opportunist, der immer wieder auf die Füße fällt – funktioniert. Eva und Dr. Reiter sind die zwei Seiten unserer Gesellschaft – auf der einen Seite steht der moralische Anspruch, auf der anderen das Verständnis dafür, ein Gesetz auch mal zu umgehen.
Und woher kommt Ihr Gerechtigkeitssinn?
Meine Mutter war eine unglaublich zivilcouragierte Frau. Obwohl sie sehr klein war, 1,54 Meter, hat sie sich mit jedem angelegt. Wenn in der Straßenbahn keiner für eine schwangere Frau aufgestanden ist oder Jugendliche jemanden angepöbelt haben, konnte meine Mutter einfach nicht ihren Mund halten. Und ich werde nie vergessen, wie sie in Wirtschaften reingegangen ist, um Männer, deren Familien sie kannte, rauszuholen und ihnen die Lohntüten abzunehmen, damit sie nicht alles versaufen. Ich hatte damals Angst um meine Mutter und habe mich auch furchtbar geniert. Trotzdem habe ich von ihr diesen Impetus, den ich kaum zügeln kann.
Versuchen Sie denn, ihn zu zügeln?
Heute hat sich alles sehr verschärft. Die Leute, die meine Mutter zur Raison bringen wollten, hatten kein Messer und keinen Schlagring. Wenn meine Kinder mir früher erzählt haben, was sie nachts in der U-Bahn erlebt haben, war tatsächlich ich diejenige, die gesagt hat: „Lasst euch da besser nicht darauf ein.“ Ich habe mich da selbst über mich gewundert, aber ich hatte einfach Angst um meine Kinder.
„Der schmale Grat“ spielt in einem Elite-Internat, dort gibt es keine körperliche, aber geistige Gewalt.
In unserem Film geht es um geistigen Missbrauch – auch durch die Kirche. Der Pater der Schule manipuliert die Jungen und setzt sie unter Druck, damit sie schweigen. Das ist Missbrauch, wenn auch kein sexueller, wie er jetzt in diesem unglaublichen Ausmaß ans Licht kam.
Angelika Kahl
ZDF, Samstag, 20.15 Uhr