Seesturmtauglicher Koloratur-Hochseiltanz
Die bravouröse Cecilia Bartoli sang im Gasteig Arien aus dem goldenen Zeitalter der Kastraten
Feinschmecker des Gesangs mosern derzeit gern über ihre Atemtechnik. Das sei doch mehr gehaucht und gezwitschert als gesungen, so das Verdikt. Und die Philharmonie ist kaum der ideale Ort für solche mit kleiner Stimme gezeichnete Silberstiftporträts.
Stimmt irgendwie, aber wenn Cecilia Bartoli auftritt, hat man es vergessen. Sie kam, sah und siegte. In Stiefeln mit roten Absätzen, die im 18. Jahrhundert nur Adelige tragen durften, einem rot gefütterten Umhang und roten Handschuhen rauschte sie herein. Sie zielte mit dem Hut auf den Cembalisten des Originalklang-Ensembles La Scintilla und verfehlte ihn. Dafür traf sie alle Noten der wilden Seesturm-Arie „Come nave“ des Händel-Zeitgenossen Nicolò Porpora.
Üppiges Programm
Die italienische Mezzosopranistin hat in den Musikarchiven Europas eine Reihe musikalischer Diamanten entdeckt, die um 1725 für berühmte Kastraten geschliffen wurden. Ihrer Stimme fehlt zwar der androgyne Touch von Joyce DiDonato, doch das macht sie mit einer unglaublichen Ausdruckswut wett. In langsamen Arien wird das traurige Opfer spürbar, das italienische Knaben des 18. Jahrhunderts zu Tausenden für die Musik bringen mussten.
Die Bartoli sang, und das ist an solchen Abenden nicht selbstverständlich, bis halb elf alle Nummern ihres neuen Albums. Was dort manchmal übertrieben daherkommt, wirkt live staunenswert natürlich, weil die Römerin zwar stimmlich eine Primadonna ist, sich aber nicht als solche inszeniert.
Unter Stützstrümpfen
Für zwei Arien weiblicher Figuren, die im Rokoko bisweilen auch ebenfalls von Kastraten interpretiert wurden, wechselte sie in ein Kleid mit langer Schleppe. Nach Händels „Lascia la spina“ und dem Koloraturhochseiltanz von Riccardo Broschis „Son quel nave“ zog die Bartoli ruhmbedeckt von dannen.
Mit demselben weniger bekleckerte sich die vom Winter offenbar überraschte Verwaltung jener Mehrzweckhalle, die leider auch als Philharmonie genutzt wird. Die Hälfte der Garderoben diente als Computer-Kojen einer medizinischen Messe. Man wandelte in der Pause stilvoll unter Stützstrümpfen und durfte sich zuletzt die Mäntel unter chaotischen Verhältnissen im Untergeschoss abholen. Da hilft nur: Her mit dem Marstall!
Robert Braunmüller
Die CD „Sacrificium“ erschien kürzlich bei Decca
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