Schubert im Zeitalter der Angst
Zum 85. Geburtstag:Neu aufgelegte Platten des Jahrhundertsängers Dietrich Fischer-Dieskau
Zugegeben, es war ein Fehlgriff. Auf der 13. Scheibe der Box macht der unromantische Titel des Liedes „Herrn Josef Spaun, Assessor in Linz“ neugierig. Dahinter verbirgt sich tatsächlich ein Brief an einen aus Schuberts Freundeskreis, der seinen alten Bekannten zu deren Ärger nicht mehr antwortete.
Schubert vertonte dieses Schreiben parodistisch als Rezitativ und Arie, wie aus einer Oper zwischen Weber und Rossini. Damit kann Dietrich Fischer-Dieskau nicht viel anfangen: Wenn er den in tenorale Höhen reichenden Aufschrei „Barbar!“ mit einem komisch sein wollenden Schleifer verziert, unterscheidet sich das kaum von seiner sonstigen Ausdruckswut.
Witz und Parodie lagen Fischer-Dieskau nie. Aber sonst konnte er alles. Die zum heutigen 85. Geburtstag erschienene Box mit 21 CDs beweist es: Sie enthält alle für die Männerstimme geeigneten Lieder Schuberts, aufgenommen auf dem Höhepunkt der Entwicklung des Sängers zwischen 1966 und 1971, kongenial begleitet am Klavier von Gerald Moore. Darunter sind natürlich auch die drei großen Zyklen „Die Winterreise“, „Die schöne Müllerin“ und „Schwanengesang“, die Fischer-Dieskau während seiner gesamten Karriere begleiteten.
Schon sein erster Auftritt 1943 im Rathaus des Berliner Stadtteils Zehlendorf galt der „Winterreise“. Fünf Jahre später spielte er den Zyklus zum ersten Mal auf Platte ein. Acht weitere Aufnahmen folgten im Verlauf seiner beispiellosen Karriere, die Fischer-Dieskau 1993 nach über 45 Jahren Konzerttätigkeit beendete. Seitdem malt er und schreibt unermüdlich Bücher.
Neue Maßstäbe
Fischer-Dieskaus Genauigkeit und Wortverständlichkeit setzten neue Maßstäbe. Der „Winterreise“ und mehr noch der „Schönen Müllerin“ hat er die vormalige Schubert-Gemütlichkeit ausgetrieben. Die getrieben durch die Welt irrenden Melancholiker dieser Lieder machte er zu gegenwärtigen Zeitgenossen eines Zeitalters der Angst.
Viele zeitgenössische Komponisten wie Benjamin Britten oder Hans Werner Henze komponierten für seine Stimme. Der in Berg am Starnberger See und in Berlin lebende Sänger war ein regelmäßiger Gast an der Bayerischen Staatsoper. Dort sang er 1978 die Titelpartie in Aribert Reimanns Shakespeare-Vertonung „Lear“, einem der größten Erfolge der Oper des 20. Jahrhunderts.
Über Fischer-Dieskaus kunstpriesterlichen Ernst wurde bisweilen gespottet. Wie der Sänger mit diesem Pfund zu wuchern verstand, beweisen seine in den 1950er Jahren entstandenen Aufnahmen mit frühbarocker Musik von Heinrich Schütz. Heute wird dergleichen gewiss weniger flächig und stilistisch korrekter gesungen. Fischer-Dieskau aber trifft den Protestantismus dieser Gesänge mit asketisch flammendem Ernst.
Robert Braunmüller
„Dietrich Fischer-Dieskau sings Heinrich Schütz“ (Hänssler Classics). Die Schubert-Box mit 21 CDs brachte die Deutschen Grammophon heraus
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