Schlafwandeln in die Katastrophe

 Der in Cambridge lehrende Historiker Christopher Clark untersucht in seinem neuen Buch,  wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, die These von der alleinigen, deutschen Hauptschuld stellt er dabei infrage
von  Volker Isfort

Fast drei Dutzend Neuerscheinungen widmen sich in diesem Herbst dem baldigen Jubiläum einer Katastrophe, dem Ersten Weltkrieg (1914 - 1918). Ein Buch aber gilt schon jetzt als unverzichtbar: Der in Sydney geborene und in Cambridge lehrende Historiker Christopher Clark beschreibt in "Die Schlafwandler" minutiös, überwältigend spannend und ungeheuer klarsichtig, wie der Untergang des alten Europas eingeläutet wurde. Clark, der schon ein Standardwerk zur Geschichte Preussen verfasste, hat seine Studie über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs auch mit Blick auf die Gegenwart gestaltet: Ihn interessiert dabei, wie ein lokaler Konflikt die Möglichkeit zu einem internationalen Flächenbrand birgt. Diese Gefahr ist auch in Zeiten supranationaler politischer Strukturen keineswegs gebannt.

Schon der Zeitpunkt war eine Provokation: Gegen konkrete Warnungen hatte sich Erzherzog Franz Ferdinand ausgerechnet den 28. Juni ausgesucht, um 1914 mit seiner Gattin Sophie nach Sarajevo zu reisen. Der Tag ist mythisch für die Serben seit der Niederlage gegen das osmanische Reich im Kosovo 1389. Und es waren die Serben, die nach den beiden Balkankriegen 1912/13 nun am südöstlichen Rand der politisch schwächelnden Doppelmonarchie Österreich-Ungarn die Machtverhältnisse herausforderten. Der lang vorbereitete Mord an Franz Ferdinand und seiner Gattin durch ein serbisches Terrorkommando gilt als Auslöser für den Ersten Weltkrieg.

Aber musste die Reaktion Österreich-Ungarns zwangsläufig die anderen Grossmächte mit in den Krieg ziehen? Warum konnte der Konflikt nicht lokal bleiben? In zwölf Kapiteln umkreist Clark die Vorgeschichte des Weltkrieges, entflechtet die komplizierten internationalen Verbindungen der Grossmächte und rückt die handelnden Protagonisten mit ihren persönlichen Defekten und Motiven in den Mittelpunkt. Es sind Geschichten von Hass und Misstrauen, hektischer Diplomatie, fehlendem Gespür, glühendem Nationalismus und verletzten Eitelkeiten. Mittendrin der deutsche Kaiser Wilhelm II., der wöchentlich neue Flausen durchspielt, von der grossflächigen Besiedelung Brasiliens bis zur Invasion in New York, andererseits aber lange um Frieden bemüht, mit der Situation hadert, mit Frankreich, England und Russland gleich von drei miteinander verbündeten Grossmächten umgeben zu sein. Dass in England mit König George V. und in Russland mit Zar Nikolaus II. gleich zwei Cousins des Kaisers regieren, macht die Situation nicht einfacher. Grossmutter (Queen Viktoria) hätte niemals erlaubt, dass Nicki und George mich so behandeln, soll Wilhelm II. später lamentiert haben. So aber sieht er sich in der Falle, als Russland mit der Mobilisierung beginnt.

Clarks These: Gerade weil die Mächtigen den Kontinentalkrieg scheinbar ganz an den Rand des Horizonts der Wahrscheinlichkeit zurückdrängten, unterschätzten sie das mit ihren Interventionen verbundene Risiko. Alle bereiteten einen Krieg vor, den so eigentlich niemand wollte. Manchen aber scheint der nahende Krieg auch als Erlösung aus der politischen Starre: "Ich fühle mich aber vielleicht zum ersten Mal seit 30 Jahren als Österreicher und möchte es noch einmal mit diesem wenig hoffnungsvollen Reich versuchen", notiert in Wien der 58-jährige Sigmund Freud, als Österreich am 28. Juli 1914 Serbien den Krieg erklärt, und fügte an anderer Stelle ganz in seinem Duktus hinzu: "Meine ganze Libido gehört Österreich-Ungarn."

"Der Kriegsausbruch von 1914 ist kein Agatha-Christie-Thriller, an dessen Ende wir den Schuldigen im Konservatorium über einen Leichnam gebeugt auf frischer Tat ertappen", schreibt Clark im Nachwort. Er sieht - anders als lange in der Geschichtsschreibung vorherrschend diskutiert - nicht Deutschland als den Hauptschuldigen, vielmehr sämtliche politischen Entscheidungsträger als "Schlafwandler - wachsam, aber blind, von Alpträumen geplagt, aber unfähig, die Realität der Gräuel zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen sollten". Wer dieses Buch gelesen hat, sieht nicht nur die Vergangenheit deutlich schärfer. Christopher Clark: "Die Schlafwandler" (DVA, 895 Seiten, 39.90 Euro)

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