Scheiden oder köpfen?
Sie öffnet uns die Türen in die Vergangenheit. Hilary Mantel schildert in ihren Romanen Geschichte so plastisch, dass auch 500 Jahre alte Charaktere fast wie Zeitgenossen wirken. Ihre Kunst, literarische Lichtjahre von heimischen „Wanderhuren” entfernt, hat sie in ihrem aktuellen Buchprojekt perfektioniert. Die 60-jährige Britin bastelt seit einigen Jahren an einer Trilogie über Thomas Cromwell, Sohn eines Schmieds und Bierbrauers, der zum Sekretär und Lordsiegelbewahrer Heinrich VIII. aufsteigt.
In „Wölfe” (2009) schildert Mantel, wie Cromwell die Scheidung des Tudor-Königs Heinrich VIII. mit Katharina von Aragon einleitet, den König 1531 zum Oberhaupt der Englischen Kirche macht und mit dem Papst bricht. In „Falken”, gerade auf Deutsch erschienen, wählt Mantel einen kürzeren Abschnitt: die Vernichtung Anne Boleyns, der zweiten Ehefrau Heinrich VIII., die durch Cromwells intrigante Diplomatie ebenso auf dem Schafott landet wie ihre angeblichen Liebhaber. Der König hat nun die Möglichkeit, mit Jane Seymour den erhofften männlichen Thronerben zu zeugen. Beide Bücher wurden in England mit dem renommierten Booker-Preis gewürdigt – das gelang vor Mantel noch keiner weiblichen Schriftstellerin.
Ein Friedhof voller Babys
Worin aber besteht das Geheimnis ihrer außergewöhnlichen Geschichtsschreibung? Sie verzichtet auf den großen Bogen und die erklärenden Fakten und analysiert das Netzwerk der Macht anhand von ungewöhnlich vielen Einzelszenen und Hinterzimmerdialogen mit geschliffenem Wortwitz. „Die Geschäfte am Königshof werden überwiegend face-to-face ausgehandelt, sie hinterlassen keine Spuren in schriftlichen Zeugnissen”, erklärt sie in einem Interview: „Das sind die Lücken, die Schriftsteller durch Vorstellungskraft füllen können. Für Historiker ist das ein Problem, sie können nicht einfach einen Charakter erfinden, aber für Schriftsteller ist das eine großartige Vorlage.”
Zwanzig Jahre hat die Ehe Heinrich VIII. mit Katharina gedauert, nur gut drei Jahre die mit Anne Boleyn. „Dennoch hat er nichts vorzuweisen als jeweils eine Tochter und einen Friedhof voller toter Babys”, schreibt Mantel. Heinrich VIII., der stattliche Mann und furchteinflößende Turnierkämpfer, ist bei ihr ein Getriebener, launenhaft und mit ungalanten Manieren: Als er Jane als Zeichen seiner Liebe eine Kette mit einem winzigen Buch zukommen lässt, sieht Jane auf dem Umschlag aus Gold die miteinander verwundenen Initiale H und A geschrieben. Und unter Annes Initial schimmert noch das K durch. Cromwell öffnet das Büchlein: „Das kostbarste Juwel, das einer finden kann, ist eine tugendhafte Frau”, steht dort. „Was offenbar nicht stimmt, denkt er: drei Geschenke, drei Frauen und nur eine Juwelierrechnung.” Perlen dieses britischen Humors durchziehen den Roman „Falken”, der zum Ende mächtig aufdreht. Wie Cromwell die des Ehebruchs mit der Königin Beschuldigten ohne Geständnis in das längst beschlossene Schicksal führt, ist ein Psychothriller der Extraklasse. Doch der Atmosphäre aus Angst und Heuchelei, die er selbst mitgeschaffen hat, kann auch Cromwell nicht entgehen. Im abschließenden Buch wird auch er auf dem Schafott enden, als er Heinrich VIII. aus politischen Gründen mit Anna von Kleve verheiratet – die vierte und vorvorletzte Frau des Königs.
Hilary Mantel: „Falken” (DuMont, 480 Seiten, 22.99 Euro)
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