Sagenhafte Volkskultur im Dickicht der Städte

Kammerspiele: Sebastian Nübling inszeniert das Stück „Alpsegen” von Zaimoglu und Senkel
Gabriella Lorezn |
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Sie heißen die Mondhelle und der fahle Gimpel, die grauen Hirten und die feurigen Männer, die Weiz und die Wildfrau. Sie sind Sagenfiguren, die das Autoren-Duo Feridun Zaimoglu und Günter Senkel in ihrem neuen Stück „Alpsegen” aus den Bergen in die Großstadt München gelockt haben. Dort treiben sie nun ihr rätselhaftes Unwesen in den Kammerspielen. Die heutige Uraufführung inszeniert Sebastian Nübling.

Zaimoglu/Senkel haben 2003 mit ihrer drastisch-vulgären „Othello”-Bearbeitung zur Wiedereröffnung der Kammerspiele für Furore gesorgt. Hier ist ihre Sprache zwar auch deftig, aber nicht skandalös. Die merkwürdigen Gespenster, die sich in einer Gastwirtschaft einfinden, raunen in einer bemüht altertümlichen, bäuerlichen Diktion Dunkles, erzählen eigenartige Geschichten wie die von einem Metzger, dessen blutiges Gewerbe die Frauen unerklärlich fasziniert. Was sie in München suchen, ob sie aus Hass oder Neugier gekommen sind, bleibt offen. Für Regisseur Nübling, Jahrgang 1960, heißt ein zentraler Satz: Das Dorf ist in die Stadt gezogen. „Es geht im weiteren Sinn darum, wie Elemente des Volksglaubens hier weiterleben”, meint er. „Wie bleibt altes Leben unter der Oberfläche erhalten? Wie kann man Fragmente der Volkskultur auf verschiedenen Ebenen benutzen, die sich durchdringen?”

Grenzerfahrungen mit dem schwulen Eisverkäufer

Neben den mythischen Sagenfiguren, deren Erzählungen dichterische Fantasie sind, gibt es reale Figuren in Konflikten. Curd, ein Bildungsbürger aus der Provinz, hat seine Familie verlassen, um mit dem schwulen Eisverkäufer Flavio Grenzerfahrungen zu machen. Doch je redseliger ihm Flavio die Homosexualität preist, desto mehr schreckt Curd zurück. Seine Frau Evi schickt ihm den Sohn Max hinterher, um ihn heimzuholen. Für Max ist es ein Fluchtversuch aus der familiären Enge, bei dem er sich völlig verliert. Kopfschmerzgeplagt hetzt er durch die Stadt und verliebt sich in die Museumswärterin Cecilia, die eine tote Seele ist.

„Cecilia ist eine Zwischenreichs-Figur auf dem Grat zwischen Leben und Tod” erklärt Nübling. „Vielleicht auch eine Halluzination. Das ganze Stück hat halluzinatorischen Charakter. Allen Figuren sitzt das Fieber in den Knochen.”

Geisterbeschwörungen und Gebetsmantra

In das von Lebenden, den Seelen Verstorbener und Geistern bevölkerte Szenario spielt auch das Jenseits hinein. Zu dem sucht die Wirtin Zugang, die jede Nacht wie eine Geisterbeschwörung den Tisch für sich, ihren toten Mann und den Heiland deckt.

„Der Text erzählt auch über Katholizismus. Die Wirtin verkörpert die magische Seite, sie sucht über ein Gebetsmantra Kontakt mit dem Jenseits. Die verlassene Ehefrau steht für das rigide Moralsystem. So zeigt das Stück von vielen Dingen die Vorder- und die Rückseite”, sagt der Regisseur.

Nübling sucht in der komplexen städtischen Struktur Reste von Volkskultur, will Blicke in Zwischenwelten öffnen. Der titelgebende Alpsegen war ein gesungenes Gebet der Bauern, um Segen für ihr Vieh, ihr Hab und Gut zu erbitten. In dessen Genuss kommt hier aber niemand. Nur für den Sohn könnte der Freitod aus Nüblings Sicht vielleicht ein Happy End sein – nämlich die Vereinigung mit der geliebten Frau. Die Stückbilanz des Regisseurs: „Es geht um die Angst vor Grenzüberschreitung und die Lust, die Angst zu überwinden. Das ist ein seltsamer Schwebezustand.”

Kammerspiele, Premiere 15. April 2011, 19.30 Uhr, Tel. 233966 00

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