Rührend, aber amateurhaft

Der AZ-Opernkritiker über die gesanglichen Fähigkeiten des britischen Newcomers
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Der AZ-Opernkritiker über die gesanglichen Fähigkeiten des britischen Newcomers

Zweiunddreißig Millionen können nicht irren. Mit seinem traurigen Hundeblick verkörpert Paul Potts ein modernes Märchen: Jeder kann ein Ziel erreichen, wenn er nur stark genug will.

Die Arie „Nessun dorma“ aus Puccinis „Turandot“ ist seit jeher ein Glanzstück tenoraler Muskelprotze und hat mit dem finalen Aufschrei „Vincero!“ („Ich werde siegen“) mit einem H als Spitzenton das Sieghafte bereits einkomponiert. Es ist einfach rührend, wenn ein Telefonverkäufer diesen Kraftakt bewältigt, dessen Popqualitäten von Luciano Pavarotti und den Drei Tenören ausgelotet wurden.

Es menschelt

Auch das Umfeld könnte kaum besser sein: Die bei der Erwähnung von Oper griesgrämigen und zuletzt begeisterten Juroren der Talentshow sind perfekt gecastet. Und wenn Potts den Hymnus stemmt, ist seine herzklopfende Anspannung ganz nahe.

Da menschelt es gewaltig. Gesangstechnisch ist es aber kein gutes Zeichen, wenn Töne mit zitterndem Überdruck produziert werden. Potts, der früher schon in Amateur-Aufführungen von Verdis „Don Carlos“ und „Aida“ aufgetreten ist, singt in der meistgesehenen Version des Videos übrigens nur die zweite Strophe. Gleich am Anfang, in der tiefen Wiederholung der Worte „Nessun dorma“, ist die Stimme wenig tragfähig. Die große Melodie buchstabiert der Brite, statt sie zu formen.

Bei Youtube gib's noch ganz andere Talente

Das helle Pop-Timbre Potts’ passt auch nicht zum Heroismus Puccinis. Aber das Mikrofon hilft, und für einen Amateur bleibt es eine passable Leistung. Aber niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass Potts die ganze Rolle bewältigen könnte. Auch in der Provinz hätte er ebenso wenig eine Chance wie der auf Youtube ebenfalls mit „Nessun dorma“ brillierende Pizzabäcker Giuseppe Nocera aus Düsseldorf, obwohl der die Musik geschmeidiger formt.

Wer Potts’ „Nessun dorma“ vergleichend hören will, hat bei Youtube die Qual der Wahl. Den tätowierten Matthew, der seinen Gesang mit freiem Oberkörper aufzuwerten versucht, kann man sich schenken. Unter den Profis sind die Machos Mario del Monaco und Franco Corelli immer noch erste Wahl. Ungewöhnlich zärtlich wagte Joseph Schmidt (1904 – 1942) Puccinis Arie, die auch Pavarotti und Plácido Domingo immer gut gesungen haben.

Die aufregendste Entdeckung bei Youtube ist allerdings ein gewisser Stanislav Vitart. Erst hält man ihn für einen Witzbold, der zu del Monaco oder Corelli den Mund bewegt. Aber er scheint wirklich selbst zu singen, wie die klavierbegleitete Stretta aus Verdis „Troubadour“ beweist. Wenn sich der Pole an die Ratschläge hält, die ihm via Internet freundlichst erteilt werden, besteht Hoffnung fürs schwere italienische Helden-Fach.

Robert Braunmüller

Das Video von Paul Potts

Tenor-Macho: Mario del Monaco

Unser Geheimtipp: Stanislav Vitart

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