Rudel-Bums ohne Biss

Kammerspiele: Der lettische Starregisseur Alvis Hermanis bastelt aus Jack Londons Roman „Ruf der Wildnis“ peinliches Hundetheater
von  Abendzeitung

Kammerspiele: Der lettische Starregisseur Alvis Hermanis bastelt aus Jack Londons Roman „Ruf der Wildnis“ peinliches Hundetheater

Eine Szene zeigt, was aus der Aufführung vielleicht hätte werden können: Wenn Benny Claessens den Hund Buck bei dessen Gefangennahme spielt. Der Belgier setzt seinen übergewichtigen Körper auf allen Vieren im Kampf gegen die würgende Leine und ein Sofa, das er wütend zerbeißt, so schonungslos ein, dass das Hinsehen weh tut. Das ist hässlich und fast obszön, weil die rutschende Hose Wampe und Hintern freilegt – aber diese Grausamkeit geht unter die Haut.

Leider bleibt das die einzige Radikalität in der Inszenierung „Ruf der Wildnis“ von Alvis Hermanis in den Kammerspielen. Der zweite Abend des Intendanz-Beginns von Johan Simons polarisierte: Großer Applaus für die Schauspieler, lautstarke Buhs für den Regiestar aus Lettland.

Gemütliches Gekraule auf dem Sofa

Alvis Hermanis arbeitet am liebsten mit authentischen Lebensgeschichten. Er wollte Jack Londons Roman „Ruf der Wildnis“ nicht einfach nacherzählen, sondern ließ seine Schauspieler aus Gesprächen mit Hundehaltern deren Charaktere mit eigenen Texten nachformen. Vom Roman sind deshalb nur ganz wenige Szenen übrig geblieben.

Sechs Schauspieler mit sechs Hunden auf sechs Sofas – deutsche Gemütlichkeit. Doch ihre hundetätschelnd erzählten Schicksale sind ungemütlich. Elvira hatte immer Pech mit Männern, jetzt sendet ihr die Jungfrau Maria Botschaften: Annette Paulmann redet wunderbar gefasst über das Scheitern hinweg. Harald (Walter Hess) ist die Frau durchgebrannt, nun ist Terrier Tobi sein Lebensgefährte. Ex-Polizist Dragan (Thomas Schmauser) hat als Hundeführer seinen Ali auf einen Penner gehetzt: Das Bild von dessen aufgerissenem Innerem vergisst er nie. Die Toilettenfrau Franzine verzeiht ihrem toten Eddy nicht seine thailändischen Liebchen – Kristof van Boven knurrt und hechelt, wie es Franzines Mops nie täte. Der hübschen Vanessa (Katharina Marie Schubert) mit dem weißen Zwergpudel hat ihr Vater als Kind „Ruf der Wildnis“ vorgelesen, sich aber vor dem Ende aus den Staub gemacht. Den Anfang rezitiert sie noch auswendig. Benny Claessens hinterfragt als einziger irritierend seine Rolle als militanter Tierschützer Erik. Er brilliert später mit einer fabelhaften Schnellsprech-Suada über alle bürgerlichen Glücksvorstellungen. Und benennt seine Teresa klar als Filmhund.

Peinliche Ein-zu-Eins-Illustrationen

Diese Filmhunde sind nettes, gehorsames Dekor: Sie verlassen nach 20 Minuten die Bühne, um kurz vor Schluss wieder artig anzutraben (nur Annette Paulmanns eigener Hund bleibt häufiger präsent). Sie bleiben gesitteter als die Menschen, die nun Hunde spielen. Die Schauspieler stürzen sich bewundernswert mutig in die eher peinlichen Eins-zu-Eins-Illustrationen: Sie hecheln, kriechen, beschnuppern sich und enden im Rudel-Bums.

Den Ruf der Wildnis, der den Schlittenhund Buck in Alaska zu den Wölfen zurücklockt, leben sie als Menschen und Hunde aus in einer Zerstörungsorgie. Die Sofas als Inbegriff der Zivilisation werden geschändet, zerrissen, Kissen und Polster geschlachtet, deren Styropor-Inhalt müllt als Alaska-Schnee die Bühne zu. Es herrscht wilder Aktionismus. Aber soll das der große Ausbruch, „The Great Escape“, den Patrick Watsons Song beschwört, sein?

Es gibt starke, berührende und auch komische Momente in Hermanis’ Inszenierung. Aber was sie über Freiheitssehnsucht erzählt, reduziert sich auf die platte Frage nach dem Tier im Menschen, die nur wenig Bezug hat zu den zum Lachen freigegebenen Figuren.

Da hätten die Dramaturgen (Julia Lochte, Jeroen Versteele) den nicht Deutsch sprechenden Hermanis besser beraten können.

Gabriella Lorenz

Kammerspiele, noch am 12., 14., 19., 24. Oktober, 3., 19., 28. November, Karten unter Tel.23396600

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