Richard David Precht: "Luther war ein widerlicher Geselle"
München - Seit seinem Bestseller „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ ist der Autor und Philosoph Richard David Precht auch häufig zu Gast in Talkshows, da er seine Haltungen mit sehr klarer Sprache formuliert.
Im ZDF hat er mit „Precht“ seit drei Jahren eine eigene Philosophiesendung. Nun hat der Publizist ein Großprojekt gestartet: Er will für Studenten und interessierte Laien die Geschichte der Philosophie aufzeichnen. Band I von „Erkenne die Welt“ führt von Thales bis zu Petrarca.
AZ: Herr Precht, warum begehen Sie nun die große, dreibändige Versenkung in die Geschichte der Philosophie?
RICHARD DAVID PRECHT: Ich hatte das unbändige Bedürfnis eine Philosophiegeschichte zu schreiben. Also das Buch, das ich als Student selber gerne gelesen hätte, um den Überblick zu bekommen, für den ich dann leider sehr viel länger gebraucht habe.
Was spricht dafür, heute Philosophie zu studieren?
Ich denke, wenn man Biologie, Jura oder Wirtschaft mit dazu studiert, dann ist das sehr sinnvoll, dann ist die Philosophie der Bonus. Philosophie sollte das Spielbein sein, nicht das Standbein.
Würde Platon heute die Zeitung aufschlagen, wäre er dann erstaunt über die Schieflage der Welt?
Ich widme in meinem Buch Platon gut achtzig Seiten, wir wissen allerdings recht wenig über ihn als Menschen, also wie er drauf war. Was ist Ironie oder Ernst in seinen Texten? Deswegen ist die Frage bei Platon schwer zu beurteilen. Man hat den Eindruck, dass er den euphorischen Optimismus, den er als jüngerer Mann gehabt hat, als er darüber nachdachte, wie man einen idealen Staat baut, nicht behalten konnte.
Das Alterswerk von Platon, sein Buch über die Gesetze, ist sehr pragmatisch und vom großen Idealismus schon weit entfernt. Wahrscheinlich würde er sich nicht wundern, dass die Staatskunst, von allem, was Menschen bisher gemacht haben, ausgerechnet die Disziplin ist, in der wir uns am geringsten weiterentwickelt haben.
Das liegt natürlich daran, dass wir keine Herrschaft der Philosophen haben, wie es Platon noch vorgeschlagen hat.
Das wäre auch nicht besser.
Peter Sloterdijk als Kanzler?
Nein. Das Problem ist ja ein anderes. Als Spitzenpolitiker sind sie zu 95 Prozent damit beschäftigt, Politik zu verkaufen und nicht damit, nachzudenken. Ich würde mir wünschen, dass auf der politischen Ebene allgemeine gesellschaftliche Überlegungen eine größere Rolle spielen und nicht nur allgemeine ökonomische Überlegungen. Wir erleben im Augenblick einen Sieg der Taktik über die Strategie, nicht nur in der Flüchtlingsfrage, nicht nur in der Frage der Kriegsführung in Syrien.
Es geht im Grunde genommen immer darum, was ist situativ das Opportunste, und nicht mehr um die Frage nach der Gesellschaft, in der wir in zehn Jahren leben wollen und dem richtigen Weg dorthin. Diese Dimension ist der Politik seit zwei, drei Jahrzehnten abhanden gekommen. Das ist übrigens nicht ein Problem von Frau Merkel, das ist ein Problem des politischen Systems. Wenn wir Sigmar Gabriel als Kanzler bekommen würden, was Gott verhüten möge, hätten wir die gleiche Situation – oder noch schlimmer.
Die Flüchtlingssituation hat aber auch gezeigt, dass tausende von Menschen spontan helfen, manche auch ganz ohne Religion und Philosophie.
Zumindest hängen das Gute und das Nachdenken über das Gute nicht eng miteinander zusammen. Sonst würde es ja bedeuten, dass Philosophieprofessoren die besseren Menschen wären – eine abwegige Vorstellung. Wir wissen aus der Sozialpsychologie, dass ethisches Verhalten in erster Linie emotional bedingt und keine Frage von Einsicht ist.
Das Geld wird von den Philosophen schon früh als das Böse gesehen. Nicht der Reichtum, aber die Gier nach Geld.
Platon war steinreich, sonst wäre er vielleicht gar kein Philosoph geworden.
Woher kommt dann diese Angst vor dem Geld?
Man muss sich Griechenland damals vorstellen als einen Verbund einzelner, meist kleiner Stadtstaaten. Patrizier regierten diese Staaten, aus einer der Herrscherfamilien Athens stammte auch Platon. Die waren ihrer Adelsethik verpflichtet: Wonach strebte ein Adliger? Nach Ruhm, Ehre und Ansehen. Die neue Schicht der Kaufleuten aber verdiente auf einmal mehr Geld als die Patrizier. Das karnevalisiert die Gesellschaft, die Verhältnisse geraten durcheinander.
Die Vormachtstellung des Adels ist bedroht. Später, im 18. Jahrhundert, gab es diese Entwicklung ja wieder, als das Bürgertum mehr Geld hatte als der Adel und es dann zu einer Revolution kam. Platon wollte das Geld eindämmen. Und Aristoteles wetterte gegen das Zinsnehmen. Seiner Meinung nach widersprach es der Tüchtigkeit des Menschen, aus Geld Geld zu schöpfen. Das ist die Ökonomie des Aristoteles, dem Begründer des Wortes Ökonomie.
Heute finden viele Griechen die Zinspolitik auch nicht gerecht.
Vor allem ist diese uralte Frage eine, die uns wieder beschäftigt. Genauso die Frage nach dem Lebensideal, nach dem erfüllten Leben. Und es sind die gleichen Widersprüche, mit denen wir uns heute herumschlagen. Es gibt das stoische Ideal der Perfektionierung, der Vervollkommnung. „Du musst das Optimum aus dir machen“, sagt der Stoiker.
Dieser Auftrag ist der ungeschriebene Verfassungsauftrag, der über uns allen heute steht. Man denke nur an den körperlichen Optimierungswahn. Wenn man gewisse Dinge als überzeitliche Phänomene erkennt, kann man reflektierter über sein gegenwärtiges Leben nachdenken.
Die meisten Menschen hätten wahrscheinlich heute lieber 100 Lebenstipps aus der Antike als ein umfangreiches Philosophiebuch.
Nein, wahrscheinlich lieber nur zehn. Aber wir müssen die Menschen davon abbringen, an zehn Tipps zu glauben. Schlimm wäre ja, es würde so einfach funktionieren. Wir würden völlig veröden. Allerdings glauben die Menschen zwar, sie würden gerne ihr Verhalten verändern, aber irgendetwas in uns hat eine unglaubliche Beharrungskraft. Irgendwie mögen wir uns auch in unserer Unvollkommenheit.
Sie nennen Epikur den ersten Ratgeberphilosophen.
Aber ich meine das nicht so böse. Es geht bei ihm um praktische Lebenskunst. Das ist kein Großentwurf mehr wie bei Platon. Aus gutem Grund: Die Makedonier haben inzwischen Griechenland besetzt, der Hochmut Athens ist gebrochen. Epikur sagt: Halte Dich aus der Politik raus, suche Dein Glück im Kleinen. Philosophisch entspricht das am ehesten unserer heutigen Situation: Wie schaffe ich im falschen Leben ein richtiges? Wir sehen die Schieflage der Weltgeschichte und wollen trotzdem eine glückliche Beziehung führen. Wir sehen den Klimawandel und wollen trotzdem für die Zukunft planen. Eine kleinparadiesische Gestaltung in einem gesamt falschen Zusammenhang.
Schwingen Sie sich doch auf zu einem neuen Nachdenken über den Staat.
Ich bin kein Staatstheoretiker. Ich habe mir natürlich meine kleinen Gedanken dazu gemacht, warum man Politik nicht mehr gestalten kann, aber ich hätte auch keine schnelle Lösung parat. Ich denke aber, dass im Zuge der digitalen Revolution und der damit einhergehenden, gesellschaftlichen Veränderung sich auch unser politisches System sehr stark verändern wird. So wie wir repräsentative Demokratie heute leben, ist sie nicht mehr tauglich für die Zukunft, in die wir gehen. Sie ist jetzt eigentlich schon in Vielem überlebt.
Was ist denn aktuell spannend in der Philosophie?
Früher waren Philosophen Experten für alles, heute gibt es für alles Experten: Kommunikationswissenschaftler, Politologen, Soziologen, Sozialpsychologen, Ökonomen etc. Aus der Philosophie ist ein kleines, logisches Fach geworden. In der analytischen Philosophie können sie sich mit der Adverbialphrase beschäftigen, eines der großen ungelösten Probleme. Nur, Experten für die Adverbialphrase braucht die Gesellschaft nicht viele. Aber das ist bei uns die akademische Gegenwartsphilosophie.
Nicht unbedingt die Philosophie für die Talkrunde.
Nein, aber auch die öffentlichen Philosophen, die laut denken, sind häufig einer Traditionslinie verpflichtet, die mir suspekt ist: einer ästhetisierten Form von Philosophie, bei der die Provokation das Wichtigste ist. So wie es die Avantgarde mit den Mitteln der Kunst wollte, so machen es nun diese Gedankenkünstler mit den Mitteln des Wortes. Slavoj Žižek beispielsweise kann heute dies sagen und morgen das Gegenteil, er outet sich gerade als Stalinfan – und alles immer unter der Prämisse, dass wir es ohnehin nicht ernst nehmen und uns an seinen köstlichen Gedanken erfreuen. Wenn die Philosophie auf der einen Seite in Fachleute zerfällt und auf der anderen Seite in Clowns, dann ist das wirklich schade.
Wozu braucht man Religion?
Ich persönlich brauche keine. Aber ich zeige in meinem Buch ja auch, wie das Christentum entstanden ist. Erstaunlich eigentlich, denn es hatte zuvor schon so viel Klügeres gegeben. Die Philosophie war schon auf einem viel höheren Niveau als das, was dann kam. Das Christentum war ein enormer kultureller Rückschritt.
Warum wurde es dann ein Erfolg?
Das Christentum entwickelte den personellen Gottesbezug, das hat die Menschen extrem angesprochen. Und man durfte alle töten, die nicht an Gott glaubten. Bei den Juden war das anders. Es gab ja andere Götter neben Jahwe, die waren aber schwächer. Im Christentum gibt es nur den einen Gott, und wer nicht an den glaubt, der hat sein Leben verwirkt. Die Radikalität der Frühchristen findet man heute wieder bei denen, die sich für den IS rekrutieren lassen. Glücklicherweise hat sich das Christentum dann weiterentwickelt.
Sie schreiben gerade den zweiten Band Ihrer Philosophiegeschichte. Wo befinden Sie sich?
Bei Luther. Ein widerlicher Geselle, ein Verbrecher an der Menschheit. Den haben wir noch nicht richtig aufgearbeitet. Wir gehen mit Luther um, als sei er ein „Heiliger“ der evangelischen Kirche. Er war aber ein für die damalige Zeit untypisch aggressiver Antisemit, Frauen verachtend bis ins Mark und vom Denken her völlig mittelalterlich. Teufel war sein Lieblingswort. Die Gesellschaft war sehr viel weiter.
Wir werden im Lutherjahr 2017 aber große Hymnen auf Luther lesen.
Mag sein, aber ich hoffe auf eine Gegenhymne.
Interview: Volker Isfort
Richard David Precht: „Erkenne die Welt. Eine Geschichte der Philosophie, Band I.“ (Goldmann, München. 576 S., 22,99 Euro)