Relative Gerechtigkeit

Der Rechtsanwalt Ferdinand von Schirach untersucht „Verbrechen“: Er schildert Justizfälle im lakonischen Stil amerikanischer Short Stories und fragt nach Wahrheit und Wirklichkeit
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Der Rechtsanwalt Ferdinand von Schirach untersucht „Verbrechen“: Er schildert Justizfälle im lakonischen Stil amerikanischer Short Stories und fragt nach Wahrheit und Wirklichkeit

Unbewacht sollten Sie dieses Buch keinesfalls rumliegen lassen. Sonst rückt es ein zufälliger Finder für die nächsten Stunden nicht heraus. Sollte es sich um eine rechtskundige Person handeln, haben Sie auch eine langwierige Debatte über letzte Dinge wie Wahrheit oder die Eitelkeit von Strafverteidigern an der Backe.

„Verbrechen“ erzählt von zerstückelten Ehefrauen, der blutigen Rache an den Dieben einer Teeschale, großbürgerlichen Gefühlshöllen und Parallelwelten kleiner Gauner mit Migrationshintergrund. Die elf unerhörten Begebenheiten könnten aus der Berliner Kanzlei des Autors stammen. Aber der Konjunktiv muss sein: Trotz aufschlussreicher Erläuterungen zur Arbeitsweise deutscher Gerichte gleicht der Band eher einer Sammlung Kurzgeschichten als Reportagen aus der Welt der Justiz.

Kalte Sachlichkeit

Der 1964 in München geborene Ferdinand von Schirach hat seine Fälle im Stil amerikanischer Short Stories überformt. Sein für die deutsche Literatur ungewohnt kalter Ton fasziniert, wenn er technisch die Funktionsweise einer Garotte erklärt oder beziehungsreich darauf hinweist, dass in Berlin 15 Mal mehr Baseballschläger als Kugeln verkauft werden. Aber Schirach ist weit entfernt, mit seiner Knappheit die Realität einfangen zu wollen: Rahmende Zitate von Werner Heisenberg und René Magritte deuten kunstvoll an, dass Wirklichkeit und Gerechtigkeit vom Standort des Betrachters abhängen.

Schirachs Geschichten enden selten moralisch. Sie geben auch keine einfachen Antworten auf justizpolitische Streitfälle: Überwachungskameras helfen nur bei korrekter Bedienung der Wahrheitsfindung, sie können Unschuldige hinter Gitter bringen. Öfter kommt der wahre Täter ohne Strafe davon. Einmal leiht der Anwalt einem mutmaßlichen Berufskiller, den er freigepaukt hat, ein Hemd. Als er es gereinigt und gebügelt zurückbekommt, wirft er es aus Ekel auf den Müll.

Die Deutschen mögen kein Pathos mehr

Lakonische Andeutungen dieser Art erzählen oft mehr als tausend Worte. Obwohl Schirach einmal ungerührt weiterwuselnde Ameisen hart gegen eine Festnahme auf einer Grünfläche schneidet, ist er kein Zyniker. Er weiß nur, wie moderne Plädoyers wirken: „Die Deutschen mögen kein Pathos mehr. Es hatte einfach zuviel davon gegeben.“ Er verteidigt die Taten nicht, versucht aber mit dem kühlen Blick des Insektenforschers zu begreifen, wie Menschen in Extremsituationen handeln.

Bewegend sind die Geschichten, weil sie elementare Lebenssituationen einfangen: Die letzte erzählt als umgedrehtes Migrantenschicksal von einem Bankräuber, der sich in Äthiopien als Wohltäter von Kaffeebauern erweist, ehe ihn die deutsche Gerechtigkeit heimholt. Aber es gibt ein Happy End.

Auch Mythisches blitzt auf: Wer die Handlung von Mozarts „Idomeneo“ noch nie begriffen hat, bekommt aus dem Protokoll eines Telefonats levantinischer Gauner eine leise Ahnung, wie verrückt Griechen nach dem Untergang eines Schiffs ticken.

Das Buch ist sprachlich wie erzählerisch ein aufregendes Debüt. Nur: Was soll danach kommen? Ein zweiter Band mit ähnlichen Fällen würde nur der Abklatsch des ersten werden. Aber vielleicht bekommt der grandiose Stilist auch das noch hin.

Robert Braunmüller

Ferdinand von Schirach: „Verbrechen“ (Piper, 207 Seiten, 16.95 Euro, auch als Hörbuch)

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