Reiz der Altersweisheit
Man unterschätzt ihn leicht. Der für den erkrankten Mariss Jansons eingesprungene Bernard Haitink beginnt die Neunte eher beiläufig. Ein 82-jähriger Dirigent muss nicht mehr den Dompteur spielen. Er kann es sich leisten, Anweisungen wie „schattenhaft” nachzuspüren, ein „Misterioso” gelassen zu nehmen und die Holzbläser am Ende des Andante commodo zur Ruhe anzuhalten.
In den Mittelsätzen von Gustav Mahlers letzter vollendeter Symphonie unterschlug das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks das Makabre und Brutale nicht. Aber Haitink animierte die schlank und transparent spielenden Musiker nicht zu jener grotesken Übersteuerung des Klangs, den viele Dirigenten für besonders echten Mahler halten. Er übte sich in Nüchternheit: Der gewalttätig-grimmige Zusammenbruch am Ende der Rondo-Burleske verfehlte auch ohne Orchesterathletik seine niederschmetternde Wirkung nicht.
Das Adagio-Finale nahm Haitink überraschend schnell. Ohne überbordenden Gefühls-Exzess erzählte der Satz von Abschied und Resignation. Aber er mündete nicht in jenes tödliche Verlöschen, das die Sentimentalen unter den Mahler-Deutern mit Blick auf die Krankheit des Komponisten aus diesem Satz herausgelesen haben.
Im Gasteig endete die Symphonie friedlich und mit gelassener Heiterkeit. Auch das ist eine Wahrheit, die ein altersweiser Dirigent aus den Noten herauslesen kann.