Rätselhafte Gewaltexplosion
Der Amoklauf ist keinesfalls eine neue Erfindung, doch die Forschung zum Thema steckt noch in ihren Anfängen
Amok in der Geschichte
Amok kommt aus dem Malaiischen, bedeutet soviel wie „rasend, wütend“, und hat seine Wurzeln in kriegerischen Selbstmordattentaten von Gruppen. Schilderungen aus dem 16. Jahrhundert beziehen sich auf Angriffe gegen portugiesische oder niederländische Kolonialherren, überliefert sind auch Amokläufe von verschuldeten Menschen, denen die Versklavung drohte. Das Phänomen gilt aber als so alt wie die Menschheit selbst. Explosive Gewalt nach vorangegangener Kränkung, ein affektiver Ausnahmezustand und eine selbstmörderische Absicht sind Konstanten.
Amok und Wissenschaft
Der Begriff „Amokforschung“ hat sich seit den 90er Jahren etabliert, ist aber wissenschaftlich gesehen sehr ungenau. Vor allem Psychologen, Kriminalisten und Konfliktforscher beschäftigen sich mit Amokläufen. Zum einen wird versucht, mit Statistiken Ablaufschemata und Typisierungen zu gewinnen. Zum anderen suchen Wissenschaftler in Handlungsmustern und Äußerungen der Täter nach Motiven und Auslösefaktoren für Amokläufe, um präventiv, also vorbeugend, Wege zu ihrer Verhinderung zu finden.
Neuerdings wird auch der Begriff „Bedrohungsmanagement“ verwendet, um deutlich zu machen, dass Amokläufer fast immer eine auffällige Vorgeschichte haben. Wenn es gelingt, diese schnell und eindeutig zu identifizieren, können die Taten oft noch verhindert werden.
Als einflussreichste Figur der Amokforschung in Deutschland gilt der Psychologe Jens Hoffmann von der Universität Darmstadt.
Das moderne „Vorbild“
Am 20. April 1999 betraten die beiden Schüler Eric Harris und Dylan Klebold die Columbine High School in Littleton, Colorado, töteten 13 Menschen und verwundeten 21 Personen. Der Münchner Joachim Gaertner hat in seinem gerade erschienenen dokumentarischen Roman „Ich bin voller Hass – und das liebe ich“ (Eichborn Berlin) Originaldokumente wie Tagebücher, Verhörprotokolle und Aussagen von Beteiligten des Columbine-Attentats zusammengetragen und fasst im Gespräch mit der AZ zusammen: „Vor Columbine gab es nichts Vergleichbares in der Form der Gewalt-Inszenierung. Auch die Bewaffnung hat extrem zugenommen. Columbine ist fast eine Art Handlungsanweisung für alle späteren Schul-Amokläufer, die sich teilweise bis ins Detail an dem Fall orientierten. Amokläufer sind keine Affekttäter, Harris und Klebold hatten ihre Tat sehr genau ein Jahr lang geplant.“
Die Statistik
Seit 1974 soll es weltweit mehr als 80 Amokläufe allein an Schulen gegeben haben, die Gesamtzahl liegt also noch deutlich höher. 95 Prozent der Täter sind männlich, 40 Prozent von ihnen arbeitslos.
Im Unterschied zu Verbrechern aus anderen Kategorien sind sie aber oft beruflich gut qualifiziert und stammen häufiger aus einem gebildeten, sozial höher stehenden Umfeld. Das Durchschnittsalter eines Amokläufers beträgt 35 Jahre, die durchschnittliche Zahl der Opfer ist drei. Auffällig ist, dass jeder zweite Amokläufer laut Statistik unter einer erkennbaren psychischen Erkrankung leidet.
Der Ablauf
Nicht unumstritten, aber üblich ist die Einteilung einer Amokattacke in Phasen. In der ersten verfällt der potenzielle Täter in ein „depressives Brüten“. In der zweiten steigern sich plötzlich und gewaltig Wut und Aggression. Dann kommt die dritte Phase – der Amoklauf selbst, der als mörderischer Blutrausch erlebt wird. Sofern der Täter die Tat überlebt, kann sich eine vierte Phase anschließen, die meist von Depression und Gedächtnisverlust geprägt wird.
Der Stand der Forschung
Amokforscher Jens Hoffmann benennt drei Mythen, die sich inzwischen als falsch herausgestellt hätten. Erstens seien Amoktaten keine spontanen Aussetzer, wie zeitweilig geglaubt wurde. Es gebe immer im Vorfeld erkennbare Anzeichen, sagte der Wissenschaftler dem „Deutschlandradio Kultur“. Diese Frühwarnsignale, die von den Vorbereitungen zur Tat ausgehen, werden „Leaking“ genannt. Zweitens hätten die Täter kein so klar definiertes soziales Profil, dass Prävention nur in einem bestimmten Umfeld stattfinden müsse. Und drittens könne der Ort eines Amoklaufes überall sein, es gebe keine Festlegung auf ein bestimmtes Milieu. Auslöser einer Tat sei fast immer eine Art Herausfallen eines Menschen aus seinem sozialen System, aus seiner Kultur. Dieses führe zu Identitätsproblemen, die bei Männern offenbar viel eher zu extremer Gewalt führen können als bei Frauen.
Der Jugendpsychologe Wolfgang Bergmann weist aber darauf hin, dass die fortschreitende Verwischung von klassischen Geschlechterrollen auch hier Auswirkungen haben dürfte: Er rechnet mit „dem ersten weiblichen Amoklauf in naher Zukunft von fünf bis zehn Jahren“. Der Medien-Forscher Heiko Christians schreibt in seinem Buch „Amok“ (Aisthesis Verlag), dass in einer Medienkultur der Mensch „pausenloser Schauspieler seiner selbst ist“. Jeder spiele mit einem Rollenrepertoire – auf dieser Basis bewege sich der Amokläufer in eine fatale Richtung: „Die Welten des Amoks und die Welten der Unterhaltung sind untrennbar verschränkt.“
Wechselbeziehung mit der Kunst
„Oliver Stones ,Natural Born Killers’, ,Lost Highway’ von David Lynch, ,Reservoir Dogs’ und andere Tarantino-Filme tauchten auf in den Tagebüchern und Top-Ten-Listen der beiden Killer“, schreibt Joachim Gaertner über die Columbine-Täter. Schon die Titel zeigen, „wie sie ihre eigenen übermächtigen inneren Energien in den großen filmischen Reflexionen über Gewalt wiedererkannten“. Stephen Kings Roman „Amok“ inspirierte hingegen den 14-jährigen Barry Loukatis am 2. Februar 1996 in Moses Lake, Washington, seine Algebra-Lehrerein und zwei Mitschüler zu erschießen. Das Buch wurde auch im Spind von Michael Carneal gefunden, der am 1. Dezember 1997 in West Paducah, Kentucky, drei Mitschülerinnen beim Beten erschoss.
Das Columbine-Attentat wiederum inszenierte Regisseur Gus Van Sant im grandiosen Film „Elephant“, Michael Moore thematisierte in „Bowling for Columbine“ den Waffenfetischismus der Amerikaner.
Methoden zur Verhinderung
Jens Hoffmann plädiert für „Managementstrategien zur Risikovermeidung“, die von Psychologen, Lehrern und Sozialarbeitern erlernt und angewandt werden können – ähnlich wie bei der Suizid-Prävention. Bei diesen sogenannten Screening-Verfahren versucht man, auffällige Veränderungen etwa im Verhalten von Schülern zu erkennen und rechtzeitig auf sie einzuwirken. Wolfgang Bergmann drückt es so aus: „Die allerbeste Prophylaxe ist, wenn ein gefährdeter Jugendlicher einen als stark empfundenen Erwachsenen findet.“ Dieser müsse ihm Orientierung geben im Sinne eines „Halt, Stopp!“, aber auch im Sinne eines: „Halte dich bei mir fest.“
gr./vi
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