Quer durch die Generationen

Ihr schockierendes Debüt „Ostersonntag“ war vor drei Jahren ein Überraschungserfolg. Jetzt legt Harriet Köhler ihren zweiten Roman vor: Es ist abermals eine Familiengeschichte – aber anders
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Ihr schockierendes Debüt „Ostersonntag“ war vor drei Jahren ein Überraschungserfolg. Jetzt legt Harriet Köhler ihren zweiten Roman vor: Es ist abermals eine Familiengeschichte – aber anders

"Schwierig“ war es, wieder mit dem Schreiben zu beginnen, sagt sie, „ganz schwierig“. Harriet Köhler (32), gebürtige Münchnerin und seit einiger Zeit in Frankfurt lebend, hatte 2007 mit der rabenschwarzen Familiengeschichte „Ostersonntag“ das Literaturdebüt des Jahres hingelegt: Hymnen in allen Feuilletons, es folgten Auftritte bei Ulrich Wickert im TV und bei Albert Ostermaiers Brecht-Festival, der AZ-Stern des Jahres und eine endlose Lesereise. Ponkie beschrieb Köhlers Stil als „Sprach-Zyankali“.

„Auf einmal ist man nicht mehr so unschuldig“, sagt Köhler, „auf einmal ist das Schreiben mühsam und angstbesetzt“. Nur langsam konnte sie den Fluch des schnellen Erfolges besiegen – doch jetzt ist ihr zweiter Roman „Und dann diese Stille“ tatsächlich fertig.

Wer den Köhler-Sound aus „Ostersonntag“, ihre harte, extrem schnelle und doch poetische Sprache mag, wird ihn auch im neuen Buch wiedererkennen. Aber er hat sich verändert: Die „Stille“ ist leiser und weicher im Ton, ist deutlich langsamer erzählt, sie hat weniger Sex und Schockeffekte.

„Mit dem Erfolg ist man auf einmal nicht mehr so unschuldig“

Ansonsten schließt die neue Köhler durchaus an die alte an: Es ist wieder eine Familiengeschichte geworden, ein Generationenporträt mit einem extrem genauen und intensiven Blick in die Seelen und die Abgründe der Figuren, insbesondere der alten und älteren Männer. Der greise Walther verliert seine Frau, ohne mit ihr ins Reine gekommen zu sein, sein Sohn Jürgen zieht als geschiedener Rentner wieder bei ihm ein, und Enkel Nicki scheitert beim Versuch der Abgrenzung zu den Alten: Alle Emotionen, Ängste, Hoffnungen ziehen sich quer durch die Generationen, wir sind Gefangene unserer Familien und ihrer Geschichte.

Insbesondere die Kriegserlebnisse der Großväter wirken bis auf die Enkel nach – hier baut Köhler ein brisantes Thema der aktuellen Psychologie-Forschung ein. Wie bei „Ostersonntag“ geht es bei ihren Figuren nicht um die Frage: Wo wollen die hin? – Köhler will stattdessen immer noch wissen: Wo kommen die her? Was treibt sie an?

Und wieder hat der Köhler-Roman keinen richtigen Anfang und kein richtiges Ende. Die „Stille“ zieht den Leser in das Leben dreier Menschen – und das mit einer solchen Sprach- und Erzählkunst, dass man sich in allen dreien wiederzuerkennen glaubt. Es ist also kein böses Buch wie das Debüt, aber auch kein braves. Das Beunruhigende an den Texten von Harriet Köhler ist, wie sie schreien, selbst wenn sie leise sind.

Michael Grill

Harriet Köhler: „Und dann diese Stille“ (Kiepenheuer & Witsch, 330 Seiten, 19.95 Euro)

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