Quatscht ein Boomer an der Bar

Sein Kurzgeschichtenband "Verbrechen" faszinierte 2009 durch einen in der deutschen Literatur ungewohnten kalten, nüchternen sachlichen Ton. Ein zweiter, etwas schwächerer Band folgte, dann die Novelle "Der Fall Collini". Dann schien es, als habe Ferdinand von Schirach alles gesagt. Er schrieb zwei Theaterstücke, in denen auf der Bühne moralisch-juristische Fragen debattiert werden. Sie entsprachen überhaupt nicht dem künstlerischen Zeitgeist, waren aber womöglich gerade deshalb besonders erfolgreich.
Im Herbst geht Schirach mit einem Monolog auf eine Tournee durch Deutschland, die ihn im Dezember auch in die Isarphilharmonie führen wird. Der Text ist nun auch als Buch erschienen. Besser spricht man von einem Büchlein, das gerade einmal für eine längere U-Bahn-Fahrt ausreicht und mit Hilfe sehr großer Buchstaben und eines Interviews aus dem SZ-Magazin auf 108 Seiten gebracht wurde.
"Regen" heißt der Monolog, und tatsächlich regnet es am Anfang, wenn ein älterer Herr die Bühne betritt. Er ist Schöffe bei der Verhandlung eines Mordfalls und besieht den Tatort. Wie immer bei Schirach gibt es sachdienliche Hinweise für Nicht-Juristen. Außerdem ist der Herr auch noch Schriftsteller.
Wenn Schirach das selbst auf der Bühne spricht, wird die Kunstfigur ziemlich absichtsvoll mit dem Autor selbst verschwimmen. Diese Wirkung tritt bereits bei der Lektüre auf, weil es schwer ist, nach dem Zuklappen des Buchs den Monolog und das Interview inhaltlich auseinanderzuhalten. Und auch schon bei den Kurzgeschichten schwang immer mit, dass Schirachs hier Fälle aus seiner beruflichen Zeit als Anwalt literarisch verarbeitet hätte.
Der Herr im besten Alter ist - wie Schirach - ein Melancholiker, der vom Hundertsten ins Tausendste abschweift. Jüngere würden ihn einen "Boomer" nennen, denn das ist er mit seiner penetranten Besserwisserei durch und durch. Er ist zwar Lyriker, redet aber wie der Kurzgeschichtenautor abgebrüht von den letzten Dingen wie dem plötzlichen Tod seiner Geliebten. Und er lässt uns wissen, dass er Einladungen meidet und auf Reisen früh zu Bett geht, was er offenkundig mit Schirach gemeinsam hat.
In diesem Zusammenhang wird Gottfried Benn zitiert. Später folgt auch noch ein Zitat aus Goethes "Marienbader Elegie", die alle Herren im besten Alter so lieben. Und natürlich geht es auch (wenigstens halb ironisch) um Hemingway und die mondäne Welt der Bars, auch wenn man dem Interview entnehmen darf, dass Schirach keinen Alkohol trinkt, was Aufenthalte an diesen Orten doch eher unerquicklich macht.
Dieses Gefühl verbreitet Schirachs Monolog und Interview vor allem dann, wenn von der guten alten Zeit vor dem Untergang des Abendlandes die Rede ist, das mit der Einführung des Rauchverbots und der internetfähigen Mobiltelefone einsetzte. Und natürlich hat der Herr seine Probleme mit der Moral und der sogenannten "Correctness".
Man mag seiner Bemerkung ja noch beipflichten, dass die Menschen sich heute damit schwertun, Widersprüche auszuhalten. "Die offene Gesellschaft gibt es aber nur mit Ambivalenzen", fährt der Herr fort. "Die Kehrseite: In unserer Zeit wird kein Parthenon mehr gebaut. Wir bauen den Berliner Flughafen".
Der Leser sieht an diesem Punkt bereits das Publikum bei Schirachs Deutschland-Tournee schenkelklopfend lachen: Ein bisschen Demokratieverachtung zieht immer. Ganz neu ist der Witz übrigens nicht: Er lehnt sich an Harry Limes Kukucksuhr-Rede aus dem Film "Der dritte Mann an", in der die künstlerisch produktive, aber kriegerische Zeit der Borgia mit dem langweiligen 500-jährigen Frieden in der Schweiz verglichen wird.
Die Pointe dieses nietzscheanischen Übermenschengebrabbels ist nur: Der Parthenon entstand in der Ära der Attischen Demokratie auf der Akropolis, nicht in einer Phase aristokratischer Edelmenschenherrschaft.
Bekanntlich sollte man Schwadronierern an einer Bar im Interesse des eigenen Seelenfriedens nicht widersprechen. Und breitet der Herr im Zuge seiner Selbststilisierung zum Philosophen und Lonesome Rider munter weiter konservative Halbbildung aus: über den Papageienfisch, die Geburt der Venus bei Botticelli und Hesiod, das Autowandern und die Mühen der Schriftstellerei.
Schirachs Bücher sind langweilig geworden. Weil er aber für seine Berühmtheit berühmt ist, wird er die ziemliche Leere dieses Monologs in der Isarphilharmonie mit seinem Charisma mühelos wettmachen.
Ferdinand von Schirach: "Regen. Eine Liebeserklärung" (Luchterhand, 112 S., 20 Euro). Der Autor tritt mit seinem Monolog am Sonntag, den 26. November um 20 Uhr in der Isarphilharmonie auf