Pixel-Magie in der Kunsthalle München

Audio von Carbonatix
Claude Monet wäre begeistert von diesem Blumenmeer, in dem man in Münchner Kunsthalle von virtuellen Blüten und Blättern umspült wird. Seine berühmten Seerosen tun ja nichts anderes, ruhiger vielleicht, weniger wild in den Formen und Farben. Aber das ist es doch, was dem großen Impressionisten vor mehr als 100 Jahren vorgeschwebt hatte: das völlige Eintauchen in die Malerei, ein horizontloses Rundumerlebnis, wie es erst nach seinem Tod 1926 in der Orangerie gleich hinterm Pariser Louvre realisiert wurde.
Der Clou dort sind die meterlangen Teichansichten um einen ovalen Saal herum. Das ist die Steigerung, die Miguel Chevalier aufgreift, um sich mit dieser Arbeit vor einem seiner Heroen zu verneigen. Und das ausgerechnet als Pionier der digitalen Kunst, der hier 2023 auch noch zum ersten Mal die Künstliche Intelligenz mit ins Boot geholt hat.
Inspiration holt sich Chevalier aus er Natur
Der 66-jährige Franzose bezieht seine Inspirationen oft genug aus der Natur und wirft damit die üblichen Klischees über den Haufen. Ungefähr so wie die Strukturen, die sich gleich im ersten Raum an den Wänden entwickeln, bereits durch eine kleine Bewegung im Publikum kippen, löchrig werden wie Netzstrümpfe oder in sich zusammenfallen, um im nächsten Moment wieder neue Formationen zu bilden.
„The Origin of the World“, der Titel dieser interaktiven Installation, kommt auch nicht von ungefähr, denn betrachtet man Gustave Courbets gleichnamiges Skandalgemälde zur Abwechslung nüchtern, stehen am Beginn eines Organismus‘ ein, zwei Zellen und deren Teilung. Ohne Übermaß an Fantasie kann man solches aus Chevaliers Bilderflüssen herauslesen, und geht es in den Mikrobereich, landet man bei den Pixeln. Die sind genauso unsichtbar wie die Zellen der Lebewesen, aber doch elementar. So banal das klingen mag.
Wie in der Evolution spielt der Zufall die entscheidende Rolle
Und noch eine Verbindung gibt es zur Evolution: Welches der 70 Muster dieses „Ursprungs der Welt“ gerade zum Zug kommt, bestimmt der Zufall. Angetrieben von unfassbar komplizierten Algorithmen. In Winzschrift ausformuliert, füllen die entsprechenden Programmierungen riesige Wände.
Einmal erlaubt sich Chevalier tatsächlich diesen Spaß. Für Normalos sind das gänzlich undurchdringliche Baupläne, dabei hat Mastermind Miguel selbst bei Null angefangen. Computer gab es schon, aber die waren Anfang der 1980er Jahre noch den Wissenschaftlern vorbehalten.
Erst nach Mitternacht darf Student Chevalier an den Rechner
Ein Ingenieur verschaffte dem Studenten der Kunst und der Archäologie allerdings Zugang zum nationalen Recherchezentrum. Zwischen Mitternacht und sechs Uhr in der Früh durfte Chevalier in der Programmiersprache Fortran seine ersten Codes zur Bildbearbeitung ausgrübeln. Ein Stipendium in New York brachte dann die Gelegenheit, Grafikkarten und eine rudimentäre Zeichensoftware einzusetzen.
Man kann sich das heute kaum vorstellen, jedes noch so lausige Notebook bietet ein Vielfaches mehr, als sich Chevalier in den kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Sein Commodore Amiga 1000 aus dem Jahr 1985 wirkt in der Ausstellung wie ein sperriges Fossil aus antiken Zeiten. Wer befürchtet, dass sich Chevaliers erster umfassender Soloauftritt im deutschsprachigen Raum vornehmlich an die Anhänger von Bits und Bytes richtet, wird sein buntes Wunder erleben. Das sinnliche Erfahren hat für ihn Priorität, da ist er durch und durch Künstler mit dem Drang zur möglichst breiten Öffentlichkeit.
Schon der kleine Miguel ist fasziniert von Riveras Wandmalereien
Schon als kleiner Bub hat Miguel mit seinem Vater - in den Sechzigern Direktor der französischen Kulturinstitute Lateinamerikas - in Mexiko Museen und Palacios besucht und die ausladenden Wandmalereien Diego Riveras regelrecht verschlungen. Sie prägen diesen Tüftler bis heute, zumal die Kunsthalle mit ihren großzügigen Räumlichkeiten die idealen Voraussetzungen für seine Inszenierungen bietet. Und das betrifft längst nicht nur die bewegten, teils von den Kompositionen Jacopo Baboni Schilingis begleiteten Installationen, die häufig auf ihr Gegenüber reagieren - und sei es, indem sie ein „Selfie“ in geometrischen Mustern wiedergeben, das wie ein Mosaik anmutet.
Ein Janus-Kopf, ausgespuckt vom 3D-Drucker
Chevalier setzt freilich auch auf das Dreidimensionale und das physische Erfahren der sogenannten Voxel im Raum. Ein wie aus feuerroten Legoquadern gebauter Janus-Kopf steht für Vergangenheit und Zukunft und symbolisiert zugleich dieses Œuvre. Solche Objekte verbreiten immer noch Bastlercharme wie die überdimensionalen Gitter-Sphären, die von der Decke hängen. Fluoreszierende Stahlstäbe sind wie beim Mikado kreuz und quer durcheinandergewirbelt und bilden ein dichtes Geflecht, das unter dem vielsagenden Titel „Rhizomatic“ an die unterirdischen Wurzelvernetzungen - Rhizome - von Pflanzen wie Ingwer oder den kaum zu bändigenden Giersch anspielen.
Quallengebilde treffen auf veritableVirenkugeln
Im Verlauf der Schau gewinnt die digitale Natur auch mehr und mehr die Oberhand. Besonders anziehend sind dabei die Kunstharz-Blumen aus dem 3D-Drucker, die ein digitales Herbarium begleiten. Und dann wachsen da noch gefaltete Skulpturen aus dem Boden, die an die Glasvasen des Finnen Alvar Aalto erinnern.
Auch diese Spezies ist dem Fabber entschlüpft, wobei vieles der realen Natur so nah kommt, dass einem zwischen Quallengebilden und Virenkugeln ganz schummrig werden kann. In gewisser Weise gibt es das alles schon. Der Schöpfung ist nichts mehr hinzuzufügen, das demonstriert ein Blick auf die bildschönen Referenzen aus botanischen und mineralogischen Sammlungen.
„Ich bin ein digitaler Impressionist“
Am Ende ist alles eine Frage der Perspektive und der Dimensionen, was Chevalier daraus webt, dennoch aufregend anders und neu. Er sei ein digitaler Impressionist, wirft der Künstler in die Runde. Wenn man bedenkt, wie Monet und die ganze Zunft das kaum für die Augen Fassbare auf die Leinwand gebracht haben, kann man dieses Bekenntnis nur unterstreichen.
„Digital by Nature. Miguel Chevalier” bis 1. März in der Kunsthalle München, täglich 10 bis 20 Uhr, Katalog (Hirmer, 176 Seiten, in der Ausstellung 25, im Handel 39,90 Euro)
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