Pilcher im Folterkeller der Lust
Jürgen Rapprich, Experte für erotische Literatur, hat für die AZ „Shades of Grey“ gelesen.
Der Kundenkreis für literarisch erlesene Erotik ist, sagen wir, überschaubar. Da hören wir vom Millionenerfolg eines erotischen Romans, „Geheimes Verlangen“, nicht nur im prüden(?) Amerika, jetzt auch in Deutschland. Was ist da denn los? Eine neue sexuelle Revolution, die an uns vorbeigegangen ist?
Unverschämt reicher und unverschämt schöner Mann (dominant) erzieht sich eine schüchterne und bis dato sexuell unerfahrene junge Frau, indem er ihre Einwilligung zu SM-Praktiken fordert und nach und nach erhält. Das ist im Kern eine höchst romantische Dornröschen-Pilcher-Geschichte, geschickt kombiniert mit Soft-SM-Sex-Praktiken, die kaum jemand je persönlich kennen lernen wird und will. Das Schlagen und Peitschen bleibt im Rahmen, de Sade ist nicht in Sicht und jede Leserin kann davon träumen, dass sich ein so schöner und so reicher Mann so intensiv und so oft um ihren Körper und die Entwicklung ihrer Sinnlichkeit kümmert.
Super-multi-multi-super-Orgasmen
Die Sex-Szenen sind ohne verbale Zurückhaltung in aller Ausführlichkeit geschildert. Auch wenn ich persönlich mir schlecht vorstellen kann, eine Frau durch Peitschen der Klitoris zum Orgasmus bringen zu wollen – o.k., träumen darf man ja. Und so pilchert auch der Sex dahin mit garantierten jederzeitigen Super-multi-multi-super-Orgasmen durch einen unbeschränkt potenten Mann. Alle kommen immer.
Nein, ich will das Buch nicht schlecht machen. Die Autorin ist eine geschickte Handwer-kerin, und das Buch besitzt Unterhaltungswert. Oder: Traumwert. Allerdings, ein guter Lektor hätte von den 600 Seiten mindestens 300 gestrichen, dann wäre mir nicht nach einem Drittel bereits langweilig geworden.
Es ist erfreulich, wenn so viele Menschen mal wieder ein Buch lesen. Es ist sehr erfreulich, wenn so viele Menschen noch eine wache sexuelle Neugier haben. Aber ehrlich: es gibt Besseres. Z. B. Corinna Rückerts „Kammern der Begierde“, das neben vielen anderen Spielarten auch SM-Szenen enthält. Oder „Die verbotenen Früchte der Wollust“ von Lilian Green. Oder „Lust“, „Devot“, „Unartig“ von Cosette. Oder natürlich der Klassiker zu diesem Thema : Pauline Réages’ „Geschichte der O“. Oder das neue Buch von Nicholson Baker, „Haus der Löcher“, mit seinem fast absurden Panorama sexueller Wünsche und Erfüllungen. Stöbern Sie bei uns einfach mal durch die Bücher.
Der Autor betreibt das „Erotische Kabinett“ bei Literatur & Blütenlust, Kirchenstraße 5, am Max-Weber-Platz
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