Peter Wawerzinek, das Winterkind
Peter Wawerzinek wurde im Alter von zwei Jahren von seiner Mutter verlassen und in Heimen aufgezogen – in dem Roman „Rabenliebe“ schildert er sein lebenslanges Trauma
Ein aus dem Nebel gekrochener, nicht aus dem Gebärtrakt der Mutter gepresster Erdenbürger bin ich.“ In jedem Wort spürt man den Schmerz, den Peter Wawerzinek ein halbes Jahrhundert lang begleitet hat. Seine Mutter ließ ihn und die Schwester 1956 einfach in der Rostocker Wohnung zurück und ging mit ihrem Mann in den Westen. Zwei Jahre war der verlassene Sohn alt – und nur aufmerksame Nachbarn verhinderten, dass die Kinder starben.
Dann begann die Heimkarriere des Buben, der lange nicht sprechen konnte. Mehrere Adoptionen scheiterten, Nestwärme kannte er allenfalls in Spurenelementen. „Du warst von Beginn an chancenlos, das ausgeschlossene Kind in deinem Kinderheim“, schreibt Wawerzinek in seinem Buch „Rabenliebe“. Es ist die Aufarbeitung eines Traumas, das ein ganzes Leben bestimmt hat. Gescheiterte Beziehungen, Alkoholismus und immer wieder die Flucht in die Literatur, der einzige Halt in einer brüchigen Existenz.
„Wir sind nichts; was wir suchen ist alles.“ Dichterzitate, wie dieses von Hölderlin, unterbrechen den Text, Wawerzinek mischt Kinderlieder in seine Erinnerungen. Vor allem aber sammelt er Zeitungsmeldungen über missbrauchte, vernachlässigte, getötete Kinder. Es ist ein mentaler Kraftakt, den man dem Buch auf jeder Seite ansieht und wohl auch ansehen soll. „Ich habe gedacht, wenn ich mich schreibend verschenke, entfliehe ich dem Teufelskreis der Erinnerung“, heißt es zu Beginn des Romans. Aber das ist natürlich ein Trugschluss: „So bin ich schreibend tiefer in die Erinnerung hineingeraten, als mir lieb ist.“
Angst davor, sich anzuschweigen
Das „Winterkind“, das sich nur an Kälte und Schnee erinnert, schlüpft in die Rolle eines Doubles: „Mein Leben verläuft unter Pseudonym.“ Vor allem in den Kindheitsschilderungen gelingt Wawerzinek das bewegende Protokoll einer Entfremdung vom Leben: „Ich habe geschehen zu lassen“, schreibt er, als das Kind wieder von eine Pflegefamilie ins Heim zurückgeschickt wird.
Durch das „Anzapfen des nationalen Hauptcomputers“ erhält Wawerzinek von einem Behördensprecher Jahrzehnte später die Adresse seiner Mutte. Sie hat im Westen noch acht Kinder in die Welt gesetzt. Jahre zögert er, ob er sie zur Rede stellen soll. Es plagt ihn nicht nur die Angst, sich nichts zu sagen zu haben – was später auch der Fall ist. Ihn treibt auch eine künstlerische Sorge: „Ich hauche, wenn ich mich schreibend verhalte, in Wirklichkeit mein literarisches Leben aus, und bin erledigt, wenn ich davor bin, in die Mutter als Thema zurückzukriechen.“
Wawerzineks emotionale und experimentelle Selbstentblößung ist ein Buch, wie ihn deutsche Jurys lieben. In Klagenfurt gewann er den Ingeborg-Bachmann-Preis und es wäre ein Wunder, wenn er sich nicht auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis wiederfinden würde.
„Das Kind ist erwachsen geworden und in seiner Mutterlosigkeit daheim“, schreibt Wawerzinek am Schluss. Man muss dies nach der Lektüre als ein Happy-End betrachten.
Volker Isfort
Peter Wawerzinek stellt „Rabenliebe“ (Galiani, 428 Seiten, 22.95 Euro) am 27. September in der Buchhandlung Lehmkuhl vor (Leopoldstraße 45, Beginn 20.30 Uhr)