Oskar Roehlers "Jud Süß": Die Nazis als Selbstinszenierung

Mit „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ taucht Oskar Roehler in die Psyche und Obsessionen der NS-High-Society
von  Abendzeitung

Mit „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ taucht Oskar Roehler in die Psyche und Obsessionen der NS-High-Society

Wer diesen Film sieht, ist hin- und hergerissen. Und viele Kritiker haben schon nach der Berlinale-Weltpremiere auf ihn eingehackt: zum Beispiel wegen „Geschichtsverfälschung!“, weil der Darsteller von Jud Süß in dem antisemitischen Propagandaspielfilm, Ferdinand Marian, weder eine halbjüdische Frau hatte noch einen Juden versteckt hatte.

Aber muss sich ein Kunst-Film an historische Wahrheit halten? Nein. Denn es gibt – gerade in der Kunst – eine psychologische Wahrheit jenseits der Fakten. So hat der Radikal-Filmer Oskar Roehler mit dem Schauspieler Marian eine Figur gezeichnet, die viel spannend-problematischer ist als der „wahre“ Marian. Denn Roehler riskiert als Hauptfigur einen zwielichtigen Charakter, einen Schürzenjäger, einen Mann ohne Eigenschaften.

Ein kühler Kunstfilm

Das macht es schwerer, sich in diesem Film moralisch zurecht zu finden, sich zu identifizieren. Aber genau dadurch ist „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ kein moderner Propagandafilm für eine heute politisch korrekte Haltung, die gerne Täter und Opfer sauber trennt. Vielmehr ist genau der mittelmäßige Charakter von Marian unser Spiegel für den Durchschnitts-Menschen in totalitären Zeiten: nicht Mitläufer, aber kein Widerständler, schuldverstrickt, aber kein Verbrecher.

Sperrig ist der Film auch, weil er bei allem Drama-Realismus ein – auch kühler – Kunstfilm bleibt. Die Bilder sind leicht entfärbt, die Farben wie die frühen Farbfilme dieser Zeit. Künstlich wirken auch Sprachstil und die theatralische Gestik von Goebbels, den Moritz Bleibtreu selbstberauscht, narzistisch wie auf Koks spielt. Aber wie sagt Goebbels überartikuliert, in rhythmisiertem Singsang zu Marian (Tobias Moretti): „Sie sind ein großer Schauspieler, mein lieber Marian. Aber ich bin es auch!“

Manches ist missglückt

In diesem Satz steckt ein filmischer Ansatz Roehlers: Der NS-Staat wird als wahnsinnige, künstliche Selbstinszenierung der Machthaber gezeigt. Die Kunst Roehlers ist es dabei, selbst im männlich Kumpelhaft-Jovialen die permanent lauernde tödliche Grausamkeitsdrohung spüren zu lassen. Hinzu kommt die beklemmende Durchseuchung der Gesellschaft, in der man fast niemandem mehr trauen konnte: Was tun, wenn die kleine Tochter aus der Schule kommend beflissen ein „Judenfrei“-Gedicht aufsagt?

Nur einige wenige, kurze Szenen sind geschmacklich missglückt, wie der nächtliche Dachfenster-Fick Marians während eines Bombenangriffs mit einer perversen SS-Offiziersgattin (Gudrun Landgrebe), der die sexuelle, auch rassische Perversion der NS-Zeit zeigt. Oder der klischeehafte Dauersuff Marians, als er merkt, dass er sich mit „Jud Süß“ selbst erledigt hat.

Adrian Prechtel

Kino: City, Mathäser, CinemaxX, Rio, Solln; R: Oskar Roehler B: Klaus Richter (D, 120 Min.)

Der Trailer zum Film

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