Neue Heimat München
In der Fremde zu Hause: Die Journalistin Elke Reichart lässt in ihrem neuen Buch zwölf junge Menschen mit Migrationshintergrund ihre Lebensgeschichte erzählen. Die Münchnerin Elena Margulis ist eine von ihnen.
Wie sieht er aus, der Alltag junger Menschen in Deutschland, die selbst oder deren Eltern ursprünglich aus dem Ausland kommen? Die Journalistin und Autorin Elke Reichart hat sich für ihr Buch „Deutschland, gefühlte Heimat“ auf eine Reise quer durch die Republik begeben, um zwölf unterschiedliche Lebensgeschichten von Jugendlichen mit Migrationshintergrund aufzunehmen, in Interviews, Reportagen und Erfahrungsberichten.
Auch eine Münchnerin ist dabei: Die 18-jährige Elena Margulis wurde in der Ukraine geboren und lebt seit 12 Jahren in Deutschland. Hier ein Auszug aus dem Selbsterfahrungsbericht der Gymnasiastin, die regelmäßig beim Poetry-Slam, einer Art Wettbewerb für moderne Dichter, auftritt.
Ukrainischer Pass, russische Mentalität, jüdische Religion
„Deutschland – Fürth, Oktober 1995. Seitdem bin ich offiziell eine Migrantin. Somit bin ich auch offiziell der 80millionste Teil der deutschen demokratisch pluralistischen Bevölkerung, mit einem ukrainischen Pass, russischer Mentalität und jüdischer Religion. Fast wäre ich eine Bürgerin Israels geworden. Denn als wir noch in Kiew waren, haben meine Eltern das neue Mobiliar und die gesamte Kleidung nach Israel geschickt. Schließlich wollten sie aus irgendwelchen Gründen dann doch lieber Deutschland zu unserer neuen Heimat machen. Jeder mit zwei Koffern in der Hand und Sprachkenntnissen, die sich auf „äschuldigen si bidde! wie viel kostet? wo Strazse XY?“ beschränkten, hießen wir uns in Deutschland willkommen.
Leider erwartete uns keine von diesen prächtigen Überraschungsfeiern, sondern ein Heim für Immigranten: ein Bad für ein Stockwerk, zwei Waschmaschinen für das ganze Haus, eine Küche für zwei Wohnungen, Doppelbetten, die unter den 110 Kilo meines Dads quietschten. Das, was auf uns zukam, konnte nur noch besser werden: Behörden, Sprachschulen.
"Eines Tages traute ich mich, meinen Worten Stimme zu geben"
„Für die erste Klasse bist du zu gut, denn schließlich kannst du schon bis 1000 zählen und deinen Namen schreiben, und die zweite Ü-Klasse (Übergangsklasse, d. h. für Ausländer) ist überfüllt. Also ab in die Dritte!“ Aha, das war also das fantastische, wirtschaftsentwickelte, bildungsfördernde Deutschland. Drei Monate lang habe ich in der Schule geschwiegen. Eines Tages traute ich mich, meinen Worten Stimme zu geben, und nicht zu selten. Ich meldete mich, unterhielt mich sogar mit den Mitschülern und wurde wahrgenommen.
Fürth war nur ein Zwischenstopp der langen Reise. Denn schon nach einem Jahr siedelten wir nach Nürnberg um. Die Sozialhilfe ermöglichte uns, eine „normale“ Dreizimmerwohnung zu finden und unsere Existenz aufrechtzuerhalten. Der Umzug bedeutete natürlich auch einen Schulwechsel. Meine Eltern und meine Lehrerin beschlossen in dem Moment, als ich in die vierte Klasse kommen sollte, mich wieder zurück in die zweite zu stecken, doch diesmal in eine richtige deutsche zweite (denn bis dahin war ich immer in diesen Übergangsklassen mit vielen Ausländern). Diesen Schulweg muss man sich mal vorstellen: Ü3 Klasse, Ü3 Klasse, 2. Klasse, 3. Klasse...
"Meine Mutter fürchtete sich zu versagen"
Mit der neuen zweiten Klasse kam wieder ein Schulwechsel hinzu. Und zu jener Zeit kam es mir so vor, als ob, bedingt durch den erneuten Schulwechsel, der Fanatismus meiner Mutter in Bezug auf meine schulischen Leistungen immer größer wurde. Ich glaube, dass sie sich fürchtete zu versagen, ich bin mir nur nicht sicher, wobei genau. Während andere Kinder nach der Schule auf dem Spielplatz tobten, saß ich zu Hause mit meiner Mama und schrieb tagtäglich Diktate, übte die deutsche Grammatik.
Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin! Mein Vater bekam ein gutes Jobangebot in der Hauptstadt. Kurfürstendamm. Genau am Anfang dieser Straße wohnten wir in einer modernen, grad renovierten, 100-m2-Vierzimmerwohnung. Im Gegensatz zu unserer alten „Sozialbruchbude“ schien uns diese wie das Paradies zu sein. Finanziell schien es auch bergauf zu gehen. Bis dann die Firma, in der mein Dad arbeitete, kurz nach unserer Ankunft pleite ging und es dann wieder hieß, abhängig vom Staat und seiner Arbeitslosenhilfe zu sein.
"Nie die richtigen Wörter für meine Gefühle"
Mit dem Abschlusszeugnis der vierten Klasse konnte ich einen Schnitt von 1,1 vorlegen. Danke, Mama! Meine Eltern suchten für mich eine Schule aus mit einem „Express Zweig“, d. h.: Überspringen der 11. Klasse. Diese Schule lag in einer der teuersten Gegenden Berlins und war somit vor allem bei Familien aus einer höheren Schicht sehr angesagt – genau das Passende für mich, der Tochter eines Arbeitslosen. Ich litt sehr darunter, mich nie durchsetzen zu können. Nie die richtigen Wörter für meine Gefühle zu finden.
Meine Mutter lag zwei Wochen lang in einem Krankenhaus wegen eines Brusttumors – was ich erst erfuhr, als sie zu Beginn des Jahres 2000 wieder nach Hause kam. Fast parallel zu diesem Ereignis bekam mein Vater einen Job in München. Er plante, sich in München umzuschauen, für mich eine neue Schule, für uns eine neue Wohnung zu finden und sich erst mal mit dem Job vertraut zu machen, bevor meine Mutter und ich nachzogen. So pendelte er immer hin und her.
Eine kühle, isolierte Atmosphäre
Die ganze Situation eskalierte, als bei meiner Mutter Meningitis (Gehirnhautentzündung) diagnostiziert wurde. Mein Vater 600 Kilometer entfernt und meine Mutter im Krankenhaus. Verlassen, leer, verschwiegen sah unsere neue Wohnung in München aus. Die weißen, noch vom Anstreichen leicht schimmernden Wände brachten eine kühle, isolierte Atmosphäre in den sonst so hektischen Alltag. Ich entwickelte ganz neue Züge. Ich trank aus dem Kelch des Egoismus, aus dem Kelch des Ehrgeizes, des Perfektionismus, der Sucht.
Magersucht. Bulimie. An dem Tag, als ich mit meiner Klasse nach Frankreich fahren sollte und nicht gefahren bin, mit der Begründung, dass meine Mom im Krankenhaus liegt, zog ich von zu Hause aus. Mein neues Zuhause war die Anstalt für Essgestörte. Im Gegensatz zu anderen Patienten hatte ich noch ein Leben. Meine Freunde. Meine Hobbys. Ich war nicht auf 30 Kilo abgemagert. Ich hatte noch meine Attraktivität, meinen Charme, meinen Humor.
Den Kontakt zu den Eltern abgebrochen
Zu dem Zeitpunkt hatte ich überhaupt kein Zuhause. Den Kontakt zu meinen Eltern brach ich fast vollständig ab. Ich spürte, dass beide sich für diesen Bruch schuldig fühlten. Und das Schlimmste war, dass ich es auch dachte.
Ich hab es nie bereut, eine von den unzähligen Bulimikern und Magersüchtigen zu sein. Ohne diese Erfahrung wäre ich nicht so stark. Ich weiß nun, wenn ich diese Krankheit und die Einsamkeit, die ich Tag für Tag fühlte, überwinden konnte, kann ich auch jeden anderen Kampf gewinnen.
Nach etwa neun Monaten war ich wieder, wo ich hingehörte. Zu Hause. Meine Eltern und auch ich selber waren stolz, dass ich die Schule nicht abgebrochen habe, obwohl ich kurz davor gestanden habe. Ich habe die Verantwortung für meine Krankheit getragen.
Ich glaube, wenn ich meine Hobbys aufgegeben hätte, hätte ich niemals diese schwierige Reise geschafft. Hobbys sind dazu da, anderen zu zeigen, was du kannst, was dich von anderen unterscheidet. Du wirst dafür geschätzt. So ist es bei mir mit Tanzen, Schauspielern, Poetry Slam.
Das erste Mal nach acht langen Jahren sah ich meine beiden Opas und Freunde in der Ukraine wieder. Die Rückkehr in die Heimat für kurze drei Wochen weckte in mir lang vergessen geglaubte Erinnerungen. Dort wurde mir eines bewusst: Ich bin zwar in Kiew geboren, in mir fließt russisches Blut – doch ich bin schon lange keine Ukrainerin mehr.
Ich bin eine Deutsche - Oder doch nicht?
Ich fühlte mich dort wie eine Touristin. Das Land war mir fremd. Alles war für mich neu, die Kultur, die Mentalität, die Menschen. Ich fühle mich nicht mehr als eine nach Deutschland Eingewanderte. Ich bin in Deutschland zu Hause. Ich bin eine Deutsche… Oder doch nicht?“
Aus: Elke Reichart: „Deutschland, gefühlte Heimat – hier zu Hause und trotzdem fremd?!“ (dtv, 176 Seiten, 8.95 Euro)
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