Neue Feuchtgebiete
Die Nobelpreis-Juroren von Stockholm stehen heuer auf Kitsch und Verklärung. Was also macht den französischen Autor Jean-Marie Gustave Le Clézio nun zu einem Nobelpreis-würdigen Autor?
Das Kopfzerbrechen hat Konzept: „Derjenige, der in der Literatur das Ausgezeichnetste in idealistischer Richtung hervorgebracht hat“ soll nach dem Willen des Stifters Alfred Nobel (1833-1896) den Literatur-Nobelpreis (und die 1,1 Millionen Euro) erhalten. Eine schwammige, zu vielen Interpretationen einladende Formulierung, die immer wieder den Streit unter den 17 Juroren neu entfacht, wie Akademie-Mitglied Kjell Epsmark enthüllte.
Hier liegt der Schlüssel zu manch denkwürdigen Entscheidungen, „Schnapseinfälle drolliger seniler Herren aus Stockholm“ - wie Helmut Krausser in der „Zeit Literatur“ mäkelt. Es gibt sie ja, die immer noch Ungeehrten, auf die sich die Fachwelt (und das Publikum) auf mehreren Kontinenten einigen könnte - etwa Philip Roth –, nur die Schwedische Akademie halt nicht.
Bloß kein Amerikaner!
Was also macht den französischen Autor Jean-Marie Gustave Le Clézio nun zu einem Nobelpreis-würdigen Autor? Mit seinen zivilisationskritischen Romanen um versunkene, weit entfernte Welten erfüllt er zumindest den Modetrend der Akademie, keine Elfenbeinliteratur zu ehren, sondern zwischen den Kulturen schwebende Schreiber zu bevorzugen. Viele der zum Teil autobiografischen Werke des 68 Jahre alten Autors sind auch auf Deutsch erschienen wie „Der Goldsucher“, „Onitsha“, „Ein Ort fernab der Welt“ und „Revolutionen“.
Ein großes Lesepublikum in Deutschland hat Le Clézio nicht, Verleger, die sich um ihn reißen würden, ebensowenig. Er gehört zu den „Herumgereichten“ auf dem deutschen Buchmarkt, war bei Piper, Kiepenheuer & Witsch, letztes Jahr erschien „Der Afrikaner“ im Münchner Hanser Verlag. Der Roman erzählt von Clézios Afrikareise als Kind 1948, wo er zum ersten Mal seinem Vater begegnete. Die Fahrt wird zu einer Initiation in eine exotische Welt. Clézios Vater, ein englischer Mediziner, war zeitweise in Nigeria im Auftrag der britischen Regierung als Arzt tätig.
Die Kritik lobte die Klarheit der Sprache und das Afrikabild jenseits aller Klischees, aber Clézio sind Kitsch und Verklärung durchaus nicht fremd. Sie wurden ihm häufig zum Vorwurf gemacht. Kritiker Knut Cordsen fühlte sich bei der Lektüre von Le Clézios Roman „Ein Ort fernab der Welt“ in der Besprechung für die AZ an die „Poesie von Tourismus-Katalogen“ erinnert.
Seerosenblätterpoesie
Und da die sprachliche Klasse eines Autors bekanntlich beim Fallen der letzten Hüllen ersichtlich wird, sei auch diese Textstelle nicht verschwiegen: „Mein Geschlecht, dieser aufgerichtete schwarze Stein, gleitet über die feuchte weiche Lippe ihres Geschlechts, das Seerosenblatt, das den Stein einhüllt.“ Feuchtgebiete im Nobelpreissound, oder – wie die Akademie heute am Donnerstag ihre Entscheidung begründete: „Dem Verfasser des Aufbruchs, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen Ekstase, dem Erforscher einer Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der herrschenden Zivilsation.“
Der in Nizza geborene Clézio – seine Mutter war Französin - studierte Literaturwissenschaft und war nach dem Studium als Lektor in Bristol, London und Aix-en-Provence tätig. Als er 1963 mit 23 Jahren seinen ersten Roman „Das Protokoll“ veröffentlichte, lobte ihn die Fachkritik als eines der und eigenwilligsten Talente der modernen französischen Literatur. Seitdem hat er über dreißig Bücher geschrieben, darunter Erzählungen, Romane, Essays und Übersetzungen indischer Mythologie.
Die westliche Kultur - so Le Clézios These - habe „zu großes Gewicht auf die Rationalität gelegt", habe das Archaische und Mystische zusammen mit der Naturverbundenheit allzu leichtfertig über Bord geworfen. Das ist die Form der Literatur, die eine Jury in ihrem letzten Lebensabschnitt überzeugt.
Volker Isfort
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