Yannick Nézet-Séguin dirigiert deutsche Romantik
Anna Prohaska singt im Herkulessaal romantische Opernarien, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielt Anton Bruckner unter Yannick Nézet-Séguin
Es ist schwer zu erklären, aber manchmal erscheinen Stimmen, die besonders gut in die heutige Zeit zu passen scheinen. Anna Prohaska hat so eine Stimme. Sie verfügt über eine so reizvoll starke und vielfältige Färbung, dass sie, anders als mancher knabenhafter Alte-
Musik-Sopran, auch spätromantische Rollen erfüllen kann, kann jedoch ihre Fülle so schlank und klar halten, dass sie auch bei barocker Musik so stilsicher wie idiomatisch agiert: Dies ist eine Sängerin, wie geschaffen für unsere so vielseitige Welt.
In leider nur vier Ausschnitten aus romantischen Opern von Franz Schubert und Carl Maria von Weber macht sie dazu zu allem Überfluss noch erfahrbar, was für eine faszinierende Darstellerin sie ist. Sie braucht kein Kostüm, es reicht ihre anrührende Gestensprache, um drei traurige Gestalten aus Schuberts „Verschworenen“ und dem Fragment „Die Bürgschaft“ sowie Webers „Euryanthe“ lebendig werden zu lassen.
Gäbe es diese Sängerin nicht, müßte man sie erfinden
Mit einem sanft hauchenden Ansatz leuchtet der Sopran im Raum auf, schwingt sich ruhig ein und erblüht schließlich in purer Schönheit. Das ausdrucksvolle Spiel der Hände aber wird gespiegelt von einer wahrlich phänomenalen Textverständlichkeit, die nicht durch übertriebene Diktion zustandekommt, sondern dadurch, dass Anna Prohaska die Sprache selbst zur Musik macht, das „R“ etwa sinnlich rollt, die Wörter zu kleinen Bildern formt. In der Szene des Ännchens aus Webers „Freischütz“ sieht das hellauf begeisterte Publikum im Herkulessaal den Kettenhund Nero förmlich vor seinen Augen. Gäbe es Anna Prohaska noch nicht, man müsste sie schleunigst erfinden.
Yannick Nézet-Séguin steuert mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks eine so sensible wie selbständige Begleitung bei. Es ist schon fast zu erahnen, wie der Kanadier, der dem legendären Philadelphia Orchestra noch lange verbunden sein wird, nach der Pause Anton Bruckners 7. Symphonie auslegen wird. Auch er wird am Schluss vom Münchner Publikum, das wohlgemerkt über eine beispiellose Erfahrung mit Bruckners Symphonik verfügt, frenetisch gefeiert werden. Was hat er alles richtig gemacht? Kurz gesagt: Nézet-Séguin nimmt sich Zeit. Sowohl der Kopfsatz als auch das Adagio mit seiner metaphysischen Trauerarbeit entwickeln sich in langsamen Tempi, zu denen man heute soviel Geduld wie Mut braucht.
Obwohl der jungenhafte, bescheiden auftretende Dirigent, gerade einmal Anfang vierzig, den hochinteressierten Symphonikern beständig Impulse gibt, hat er hörbar erkannt, dass diese Musik sich letztlich nur aus sich selbst heraus gebären kann. Nézet-Séguin dirigiert auswendig, hat somit die Freiheit, dem Klang des Symphonieorchesters wirklich nachzuspüren, und siehe da: auch die Musiker hören so sehr auf sich wie auf ihre Kollegen. Einzig das Scherzo könnte vielleicht strukturell noch ein wenig aufgebrochen werden. Doch ansonsten kann man Größeres für Bruckners Symphonik nicht erreichen, als dass ein Dirigent und sein Orchester aufmerksamt aufeinander acht geben.