Tiefgang bei 30 Grad

„Oper für alle”: 53000 Fans weltweit verfolgen Mussorgskys „Boris” und Verdis Requiem
Christa Sigg |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News

Zur ewigen Ruhe im Sommer? Ausgerechnet eine Totenmesse zog bei „Oper für alle” die Massen an. Deutlich bevor die ersten Takte von Verdis Requiem in den schwülheißen Samstagabend dräuten, war kaum noch ein Durchkommen am Max-Joseph-Platz. So ist das, wenn Weltstars draußen auf der Bühne stehen. Da konnte „Boris Godunow” am Tag zuvor nicht mithalten. Modest Mussorgskys dunkel-brutaler Politthriller ist grandioser Stoff, der durch Mark und Bein geht – aber nix für ein Open-Air.


Leider, muss man sagen. Gerade am Freitag wuchsen die Sänger förmlich über sich hinaus. Das dürfte auch Regisseur Calixto Bieito goutiert haben, der sich unters Publikum gemischt hatte und länger ausharrte als Bayreuths nochvor der Premiere wegen Nazi-Tattoos ausgewechselter „Holländer” Evgeny Nikitin. Samt Gespielin im reich dekorierten Arm posierte er lieber für Fotos, um bald die Maximilianstraße hinab zu gockeln.

Fulminant dem Wahnsinn entgegen

Er hat Eindringliches verpasst. Von Anatoli Kotscherga (Pimen) und Sergey Skorokhodov (Otrepjew) etwa. Auch die traumhafte Anna Virovlansky gab Püppchen Xenia klangschöne Kontur. Gerhard Siegel (Schuiskij) ätzte fies in den Zarenwunden, und langsam bohrte sich der Psychoterror immer weiter in die Magengruben der Zuschauer. Der stimmlich wie darstellerisch fulminante Alexander Tsymbalyuk wankte gar zu überzeugend in den Wahnsinn.

Tatsächlich schien dieser Super-Boris erst durch die Penetranz von Erklär-Bärin Nina Ruge wieder im Hier und Jetzt zu landen. Sie rückte ihm peinsam auf die Pelle, so wie das Sportreporter beim Abgreifen hechelnder Kicker am Spielfeldrand tun. Aber dafür war die TV-Moderatorin engagiert – womöglich ja sogar, um mit Intendant Nikolaus Bachler die miese Frauenquote im Stück zu erörtern. Und um nach Jubelarien für GMD Kent Nagano und das Ensemble doch noch ein „Alles wird gut” in die Nacht zu glucksen.

Nächstes Jahrs darf's Leichteres sein

Dagegen ging der zweite Abend geradezu dezent zu Ende. Nach substanzieller Endzeitbeschwörung, durchzogen von Zittern und Zorn, Schmerz und Verzweiflung war den meisten nicht nach lautstarkem Beifall. Der Applaus kam höflich, fast wie in der Kirche. Dabei ist die „Messa da Requiem” bei aller Anbindung an die Liturgie große Oper – und ein Fall für den Konzertsaal. Dauernd hört man Verdis gequälte Herrscher, schmachtende Frauenherzen und balzende Feier. Viele haben die Solisten eh als Filippo, Elisabetta, Eboli oder „Rigoletto”-Herzog im Ohr.

Doch Sondra Radvanovsky, Ekaterina Gubanova, Joseph Calleja und René Pape schien die Hitze schlecht zu bekommen. Zaghaft warfen sich die Vier ins fromme Werk, auch die Technik meinte es nicht gut mit ihnen, zerrte selbst ein leichtes Tremolo in die Breite und war eher auf den schlagkräftig sensiblen Chor und mehr noch aufs Staatsorchester abgestimmt. Zubin Mehta konnte jedenfalls Geigerfeinheiten herausarbeiten, die Bläser kamen wohldosiert auf den Platz, das war bereits beim famosen Kurzauftritt des Jugendorchesters Attacca mit Beethovens „Egmont”-Ouvertüre zu vernehmen. Überhaupt mied der „Liebling der Münchner”, wie ihn Bachler nannte, die Extreme. Das spricht für ihn. Aber nächstes Jahr darf’s gerne was Leichteres, passend zum Sommer, sein. Obwohl live und via Livestream 53000 Fans weltweit dabei waren. 

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.