The 1975 im Zenith: Ein Abbild unserer Zeit
Und dann stehen wir plötzlich im Wohnzimmer von Matty Healy: Retro-Möbel, Röhrenfernseher, weiße Fensterläden. Ein Autoschlüssel piept, Scheinwerfer blitzen hinter den Glasscheiben auf; die Band ist angekommen. Einige Augenblicke später betritt sie die Bühne.
Es ist ein ungewöhnliches Ambiente für ein Rock-Konzert, aber „The 1975“ ist ja auch keine gewöhnliche Gruppe. Längst zählen die Briten zu den erfolgreichsten zeitgenössischen Künstlern, ihre Fans rekrutieren sie gleichermaßen aus kreischenden Teenies und Feuilletonisten. Die Widersprüche beginnen schon bei der Musik: 80er-Jahre-Synth-Pop trifft auf 2000er-Emo-Rock, Singer-Songwriter-Stuff, ein bisschen Jazz, ein bisschen House. Frontmann Matty Healy schreibt gerne über Masturbation, Epikur und Politik, in Hamburg gab er dem Publikum zuletzt Tipps für besseren Sex („Benutzt eure Hüften nicht. Nie!“)

Ein Theaterstück in zwei Akten
Im Zenith verzichtet Healy darauf, den Münchnern traut er wohl mehr zu. Ohnehin beschränkt sich die Interaktion mit dem Publikum auf ein Minimum. Schuld daran hat das Format: Die Show ist halb Konzert, halb Theater, geteilt in zwei Akte. Im ersten Part spielt Healy eine private, latent depressive Version von sich selbst. Er torkelt betrunken durch sein Wohnzimmer, wirkt abwesend, fast deplatziert. Nachrichten vom Gaza-Krieg und dem Klimawandel flimmern über die Röhrenfernseher.
Der Zuschauer wird in diesen Momenten zum Voyeur, dringt in Healys Privatsphäre ein. Als er die Ballade „When We Are Together“ anstimmt, betreten Menschen in weißen Kitteln die Bühne, entfernen alle persönlichen Gegenstände. Dann verlassen ihn auch seine Bandkollegen, einer nach dem anderen, löschen die Lichter. Die Fernseher werden wieder laut, Healy hält das alles nicht mehr aus. Er kriecht in eines der Geräte und verschwindet.
„Die Show handelt von mir“, hat Healy mal gesagt. „Es geht darum, was real ist, was ernst ist und was nicht.“ Was denn nun real und ernst ist, bleibt offen. Der 34-jährige wandelt gerne in Grenzbereichen. Mal größenwahnsinnig, dann ausgebrannt von Selbstzweifeln. Seine politischen Texte schwanken zwischen linkem Liberalismus und zynischen Bemerkungen über die weichgespülte Gen Z. Healy spielt mit diesem Image, die Band fungiert als Projektionsfläche unserer Zeit: Mal rechts, mal links, etwas Sex, ein bisschen Epikur. „The 1975“ ist so fragmentiert wie die Postmoderne. Und zurzeit eher finster unterwegs. Der „New Yorker“ erfand für Healy kurzerhand den Begriff „Post-woke Rockstar“.
Im zweiten Akt betritt ein neuer Matty Healy die Bühne
Zum Rockstar wird Healy schließlich im kürzeren zweiten Akt: Das schwarze T-Shirt hat er gegen ein weißes Polohemd getauscht. Der Farbwechsel eine Metapher für seinen neuen Gemütszustand. Kein Flachmann mehr, dafür ein Feuerwerk der größten Hits. Die Theater-Elemente werden zurückgefahren, sind an diesem Abend aber insgesamt spärlicher gesät. Bei früheren Auftritten aß Healy noch rohe Steaks, sang vom Dach des Hauses, lag neben einer nackten, ihm nachempfundenen Wachsfigur. Im Zenith fällt all das weg, auch der Smash-Hit „The Sound“ wird überraschenderweise nicht gespielt. Die Band wirkt routiniert, aber etwas müde. München gehört zu den letzten Stationen einer langen Tour.
Zum Abschluss wird es allerdings nochmal laut: Es ertönt das gitarrenlastige „Give Yourself a Try“. Zwölf Mal brüllt der neue Healy die Zeile ins Mikrofon, zumindest versuchen könne man es ja. Dann wird es dunkel. Es ist der optimistische Abschluss eines ziemlich düsteren Abends.
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