Simon Rattle im Interview: "Gewaltiger Handlungsbedarf in München"

München - Die Baustellen im Münchner Klassikleben sind ziemlich groß. Dem geplanten neuen Konzerthaus im Werksviertel wurde eine "Denkpause" verordnet, der Beginn der Gasteig-Sanierung steht in den Sternen.
Von Simon Rattle, ab September Chefdirigent von Symphonieorchester und Chor des Bayerischen Rundfunks, war zu alledem bislang nichts zu hören. Bei einem Gastspiel mit Richard Wagners "Siegfried" in Luxemburg im Rahmen seiner ersten Tournee mit dem BR-Symphonieorchester hat er ein erstes Interview gegeben.
Probleme in der Kulturszene: "München steht derzeit nicht alleine da"
AZ: Sir Simon, wie fühlt sich Ihre erste Tour mit dem BR-Symphonieorchester an? Sind Sie angekommen in München?
SIMON RATTLE: Ich bin am richtigen Ort, so fühlt sich das an. Es ist einfach ein wunderbares Orchester, und natürlich: Wir alle sind es nicht mehr gewohnt zu reisen nach Corona. Das wirkt derzeit immer wie Science Fiction, wenn man unterwegs ist. Ich fühle mich in München am richtigen Ort.
Warum geben Sie dann keine Interviews? Ernüchtert Sie die Situation in München, oder ist es Ihnen egal?
Dass ich bis jetzt keine Interviews gegeben habe, ist kein schlechtes Zeichen. Man sollte da nicht zu viel hineinlesen. Und nennen Sie mir bitte eine Kunsteinrichtung oder größere Stadt, die nicht vor gigantischen Problemen gestellt ist. München steht derzeit überhaupt nicht alleine da. Aber ja, natürlich gibt es große Herausforderungen. Wie kann ich darüber urteilen, was in München und Bayern gerade vor sich geht, wenn ich in München noch gar nicht offiziell begonnen habe? Das Letzte, was ich tun möchte, ist, meinen Mund aufzumachen, ohne zu wissen, worüber ich spreche. Sie müssen mir Zeit geben, um einfach verstehen zu können, was vor sich geht.
Simon Rattle: "Die fehlende Dringlichkeit ist absolut besorgniserregend"
Schon in London, wo Ihre Zeit beim London Symphony Orchestra ausläuft, haben Sie kein neues Konzerthaus bekommen. Dasselbe droht jetzt in München. Ist das ein Déjà-vu?
Ich war einmal ein Experte darin, den Bau von Konzerthäusern zu forcieren. Jetzt scheint es offenbar anders zu sein. Die Karten liegen alle auf dem Tisch, und es liegt noch viel Arbeit vor uns. Das einzige, was mich in München wirklich überrascht, ist der außergewöhnliche Mangel an Erkenntnis von Notwendigkeit, zu echten Lösungen zu kommen. Das macht wirklich sprachlos. Wir müssen aber eine Lösung finden, und das berührt auch den Gasteig. Selbst der Beginn der Sanierungsarbeiten wäre sehr willkommen. Die fehlende Dringlichkeit ist wirklich absolut besorgniserregend. Es ist ein langes Spiel, was wir spielen.
Aber die Zeit läuft. Was ist Ihre Taktik in diesem Spiel?
Ich muss feststellen, dass Mariss Jansons mit diesem Spiel die längste Zeit in München beschäftigt war. Nach meiner Erfahrung gibt es nie eine gute Zeit für Durchbrüche dieser Art in den Künsten. Es werden immer Probleme und Krise betont, aber: Jetzt sind wir wirklich in einer beispiellosen Weltkrise. Und trotzdem ist es noch immer möglich, Dinge voranzubringen. Wir müssen extrem positiv bleiben.
Rattle: "Ich bleibe absolut offen und konstruktiv"
Und wie? Erleuchten Sie uns, bitte!
(lacht) Mit Geduld, viel Geduld! Es wäre wunderbar, einen ununterbrochenen Fortschritt zu erleben. Aber bitte geben Sie mir etwas Zeit - auch um herauszufinden, woran es liegt. Der Grund, dass ich Interviews vermeide, ist einfach, dass ich wissen möchte, um was es geht, bis ich offiziell im Amt bin.

Schon jetzt stehen wichtige Termine an. Am 10. Mai wird Kunstminister Markus Blume im Landtag zur Konzerthaus-Frage sprechen. Werden Sie vorher mit ihm reden?
Ich hoffe, dass dies möglich ist. Wir haben im vergangenen Sommer miteinander ausführlich geredet. Wir hatten ein großes Treffen zu der Zeit, als ich in München war. Es gibt gewaltigen Handlungsbedarf in München und Bayern, und es wäre interessant zu wissen, was er darüber denkt.
Rattle über die Isarphilharmonie: "Ein solches Gebäude ist und bleibt temporär"
Haben Sie im vergangenen Sommer 2022 auch mit Markus Söder gesprochen?
Nein. Mir wurde nicht die Möglichkeit gegeben, mit ihm zu sprechen. Ich denke, dass das Treffen mit Herrn Blume faktisch auch das Gespräch mit dem Ministerpräsidenten von Bayern war.
Ein führender Dirigent der Welt bekommt keinen Termin beim Ministerpräsidenten?
Bislang gab es noch keinen direkten Austausch. Ich denke, dass dies unglaublich wichtig wäre. Ich bleibe absolut offen und konstruktiv und schaue nach vorne, was möglich ist. Ich würde mich über eine direkte Begegnung wirklich sehr freuen. Ich bin mir aber bewusst, dass Landtagswahlen in Bayern anstehen. Das ist keine günstige Zeit. Es ist wirklich sehr wichtig, am Ball zu bleiben.

Zumal es jetzt in der Isarphilharmonie auch noch Wasser- und Feuchtigkeitsschäden im Backstage-Bereich gibt. Wundert Sie das?
Überhaupt nicht! Bei allen Interimsgebäuden gibt es solche Probleme. Im Londoner Barbican Centre haben wir solche Probleme seit 40 Jahren die ganze Zeit. Ich stamme aus einem Land, wo die Idee, ein Problem nur temporär zu beheben, sehr geläufig ist. Es ist eine rein idealistische Wunschvorstellung, dass das funktioniert. Ein solches Gebäude ist und bleibt temporär, dafür wurde es entworfen.
Rattle über das BR-Symphonieorchester: "Wir haben Träume und Pläne"
Werden Sie Ihren Fünfjahres-Vertrag beim BR angesichts dieser Situation überhaupt verlängern wollen?
Es gibt da noch das Orchester. Bei einem Klangkörper wie diesem ist das extrem viel. Das ist ein sehr positives Signal, zumal es zwischen uns eine tiefe, emotionale Verbindung gibt. Ich würde es sehr mögen, mich nicht die ganze Zeit in München mit Politik herumzuschlagen. Natürlich ist das ein Teil, aber: Was wichtig ist, ist unsere Arbeit. Wir haben Träume und Pläne, ja, und dieser Klangkörper besteht aus starken, idealistischen Persönlichkeiten. Um es klar zu sagen: Was wir alle gerne machen würden, können wir ohne einen eigenen Raum nicht tun. Dieses Orchester ist faktisch immer auf Tour, auch in München, weil es keinen eigenen Ort hat. Selbst im Herkulessaal sind wir nur zu Gast. Auch die Isarphilharmonie gehört zuallererst den Philharmonikern. Sie sind extrem kollegial, wirklich sehr hilfsbereit. Kein anderes Orchester der Spitzenkategorie dieser Welt hat solche Probleme.
Sie würden also trotz dieser Situation beim BR-Symphonieorchester bleiben?
Glauben Sie wirklich, dass ich so dumm bin, mit Ihnen über meinen Vertrag zu reden? Und dann beschweren Sie sich darüber, dass wir schwammige Antworten geben oder gar nichts sagen. Wir müssen unter den Bedingungen arbeiten, die wir haben.

Vielleicht möchten Sie ja Nachfolger von Vladimir Jurowski an der Staatsoper werden? Meines Wissens ist das Verhältnis zwischen ihm und dem Staatsorchester nicht gerade das beste, und Sie mögen doch Oper, oder?
(lacht) Wieder so ein hübscher Versuch! Warum sollte ich das wollen? Es ist etwas früh, über den nächsten Job zu reden, wenn ich hier noch gar nicht angefangen habe. Ich bin sehr glücklich, in derselben Stadt zu sein wie Vladimir und bald auch Lahav. Das sind wundervolle Kollegen.
Rattle: "Sinfonieorchester sind heute mehr Piratenschiffe als Ozeandampfer"
Im Vergleich zu Lahav Shani, der 2026 bei den Philharmonikern beginnt, sind Sie viel breiter und neugieriger aufgestellt. Die Pflege zeitgenössischer Musik gleich welcher Art ist für Sie genauso selbstverständlich wie die historische Aufführungspraxis. Ist der ältere Rattle viel jünger als der junge Shani?
Was Sie sagen, ist interessant. Es gibt eine Generation von wundervollen jungen Dirigenten, über die sich Pierre Boulez ziemlich ironisch äußern würde: weil sie weniger interessiert sind an Neuer Musik. Ich denke, das scheint ein Generationen-Problem zu sein. Manchmal habe ich mit Daniel Barenboim Blicke ausgetauscht, nach dem Motto: "Oh mein Gott, wir haben nicht gedacht, dass wir schon zu den Dinosauriern gehören." Aber bitte, jeder nach seiner Fasson und seinem Geschmack. Vladimir Jurowski hat ein unglaublich breites Interesse, andere weniger. Ich wünsche den Münchner Philharmonikern eine sehr gute Zeit, weil es für sie wirklich eine außergewöhnlich harte Zeit gewesen sein muss. Sie haben die Gergiev-Causa mit Würde überstanden und sind dabei sehr generöse Kollegen uns gegenüber geblieben, Chapeau!
Das Kollegiale scheint Ihnen sehr wichtig zu sein, oder?
Natürlich, weil Sinfonieorchester heute mehr Piratenschiffe sind als Ozeandampfer. Wir müssen sehr anpassungsfähig sein. Was ein Orchester ist und ausmacht, ändert sich mit der Zeit. Die Zeiten von Wettkämpfen zwischen Orchestern in einer Stadt sind vorbei! Sie sollten es zumindest sein! Wir sitzen alle im selben Boot, sollten es gemeinsam so gut wie möglich lenken und gemeinsam dafür kämpfen. Kämpfen heißt aber nicht immer, auf den Barrikaden zu stehen und laut zu brüllen.