Simon Rattle dirigiert die musica viva

Der neue Chefdirigent widmet sich in der Isarphilharmonie der Neuen Musik
Robert Braunmüller
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Simon Rattle mit Vito Žuraj (links)
Astrid Ackermann 3 Simon Rattle mit Vito Žuraj (links)
Der Chor und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in Berios "Coro".
Astrid Ackermann 3 Der Chor und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in Berios "Coro".
Simon Rattle und der Chorleiter Peter Dijkstra beim Schlussapplaus. Hinten der Bratschist Hermann Menninghaus.
Astrid Ackermann 3 Simon Rattle und der Chorleiter Peter Dijkstra beim Schlussapplaus. Hinten der Bratschist Hermann Menninghaus.

Mehr als einmal beschleunigt das Orchester langsam bei gleichzeitig steigender Lautstärke. Die Bläser brubbeln wie ausgestoßener Dampf, und unweigerlich stellt sich bei Vito Žurajs neuem Orchesterwerk "Automatones" der Eindruck einer alten Lokomotive ein, die vom Bahnhof in die weite Welt hinausfährt.

Während man in der Isarphilharmonie noch darüber nachdenkt, ob dieser eher nostalgische Effekt wirklich zu einem Stück passt, das laut Programmheft von den Arbeiten des mythischen Ingenieurs Dädalus inspiriert und computergestützt komponiert wurde, erheben sich auch schon die Bläser des BR-Symphonieorchesters, um auf ihren Mundstücken jene Art von Choral parodistisch anzustimmen, der bei Gustav Mahler von Erlösung kündet. Auch sonst wähnt man sich bisweilen in einem Scherzo dieses Symphonikers, wenn Tanzrhythmen verfremdet werden.

"Automatones" ist dank vieler variierter Wiederholungen leicht zugänglich und dank seiner Effekte unterhaltsamer als vieles andere der Neuen Musik. Der Orchestersatz ist sehr dicht und komplex, keine Hauptstimme erklingt ohne mehrere Nebenstimme. Und vom ersten kraftvollen Tutti, in das sich Pfiffe mischen, macht die Musik einen ziemlich geerdeten Eindruck. Etwas gestückelt und ziellos wirkt sie aber auch.

Nach der Pause folgte Luciano Berios "Coro" für für 40 Sänger und 44 Instrumentalisten, die - anders als sonst - nicht getrennt sitzen, sondern einen gemeinsamen großen Klangkörper bilden. Das 1976 in Donaueschingen uraufgeführte Werk beginnt als klavierbegleitetes Lied, erweitert sich zum Duett, formiert die unterschiedlichsten Ensembles und verschmäht auch gewaltige Klangtotalen aus vielstimmigen Clustern nicht.

"Coro" ist einer der wenigen visionären Versuche, die traditionelle Verbindung von Chor und Orchester aufzulösen und weiterzuentwickeln. Der von Peter Dijkstra einstudierte Chor des Bayerischen Rundfunks konnte bei diesem Stück die große Stärke eines Berufschors herausstellen, der einerseits aus lauter Solisten besteht und trotzdem maximale klangliche Homogenität in jeder Besetzungstärke erzeugen kann.

Leider, und das ist allein Berio anzukreiden, blieben die Texte unverständlich. Auch der perfekteste Konzertsaal der Welt ist kein Studio, in dem Soli akustisch so deutlich werden wie Massenwirkungen. Und der lärmige Katastrophentonfall, den die Worte "Komm zu sehen das Blut auf den Straßen" von Pablo Neruda einbringen, wirkt aus heutiger Sicht konventionell. Daran kann auch eine maximal engagierte wie perfekte Deutung nichts ändern.

Bei der musica viva stehen die Werke, nicht die Interpretation im Vordergrund. Das mag ein Grund dafür sein, dass bisherige Chefdirigenten des BR-Symphonieorchesters entweder gar nicht, spät oder erst dann Aufführungen dieser Reihe dirigierten, wenn sie eigene Kompositionen vorstellen wollten. Simon Rattle hat schon in seinem zweiten Konzert ein neues Werk dirigiert, und sein erster Auftritt in der musica viva war erst sein drittes Programm als Chefdirigent überhaupt.

Da weht ein frischer Wind, und das darf man als Programm verstehen. Übrigens, weil Verächter Neuer Musik öfter danach fragen: Die musica viva kann seit Jahren im Herkulessaal nicht über mangelnde Nachfrage klagen. Dieses Konzert in der Isarphilharmonie war nahezu ausverkauft. Wenn Neue Musik Chefsache ist, findet sie auch vermehrtes Interesse.

Im nächsten Konzert am 10. November dirigiert Johannes Kalitzke um 20 Uhr im Herkulessaal neben einem eigenen Werk Musik von Lisa Streich und Luc Ferrari

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