Schuberts "Winterreise" als Flüchtlingswanderung

„Winter“: Schubert als Grundlage für ein Musik-Theater der Micro Oper München mit Videoprojektionen
Das Geräusch eines Bachlaufs liegt im Raum, vermengt mit einem sphärisch flimmernden Elektronikklangteppich. Auf den feinen, Bühnenvorhang werden zitternde Winteräste in einem dichten, fast abstrakten Schwarzweiß-Bild projiziert.
Und dann setzt dazu am akustischen Klavier die absteigende Eingangssequenz von Schuberts „Winterreise“ ein – als Loop, der sich wiederholt, rhythmisch aber geschickt variiert wird, so dass nie Monotonie entsteht, auch weil die halbakustische E-Gitarre zusätzlich Melodie gibt. Ein weißer Suchscheinwerfer nimmt jetzt eine Frau ins Visier: Cornelia Melián, die das Thema ihres „Winter“-Abends im Theater HochX gleich stakkatohaft, kunstvoll rappend in den Raum sing-spricht: „Fremd!“ Um dann den Anfang von Schuberts Lied mit dem Text von Wilhelm Müller dann wirklich liedhaft singend teilweise aufzugreifen: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus.“
Kein Frühlingstraum, sondern aktueller deutscher Vormärz
Gehüllt ist Melián in einen mitgenommenen Wintermantel, der aus einem Schlafsack gefertigt ist. Der Wanderer dieser Winterreise ist ein Flüchtling: gehetzt, einsam, suchend, obdachlos, verloren. Das trifft die Stimmung und Aussage von Schubert/Müllers Vormärz-Werk von 1827 auch gut. Aber der Hintergrund einer gescheiterten Liebe ist in der neuen „Winter“-Version herausgenommen: kein „Lindenbaum“, kein „Frühlingstraum“, kein „Rückblick“. Gedanklich, aber unausgesprochen ist das vielleicht durch die wärmende Erinnerung an die verlorene Heimat des Flüchtlings ersetzt, die im Kontrast die winterdeutsche Situation noch kälter erscheinen lässt.
Bereits in diesen vielseitig packenden Eingangteil ist das ganze Konzept des Stücks „Winter“ der Micro Oper München gepackt: Schuberts Musik wird eben nicht destruktiv dekonstruiert, sondern nur als prägnante Themen-Spenderin genommen. Dem Liedgesang wird die Künstlichkeit genommen, er wird – musical-schön von Cornelia Melián gesungen und Mikrofon verstärkt – zum persönlichen Erzählen. Der Text wird dabei zum theatralischen Material: Sequenzen werden herausgeholt, wiederholt, gesungen, gesprochen, rhythmisiert.
Ein paar Schwächen bei packender Leistung
Inszeniert ist das Musik-Theater durch Videoprojektionen und das Spiel von Cornelia Melián. Und da wäre in einigen wenigen Situationen etwas weniger mehr gewesen: so wenn die Todesbotin Krähe (ebenfalls Melían) im albernen Fetzenkleid peinlich unsubtil flattert. Auch hätte man sich die Zusatztexte sparen können, vor allem einen, der auf englisch Globalität heischt.
Eine wirkliche Erweiterung aber sind die projizierten Bilder von Manuela Hartel: Sie schweben, die Fantasie anregend zwischen assoziativ und konkret und überführen unsere medialen Flüchtlingsbilder (wärmende Rettungsfolien, Balkan-Autostraßen, über Bord Gegangene) in Kunst, ohne die Härte und Dramatik zu leugnen. Muss man das Schubertwerk kennen, um sich in diesem intensiven „Winter“ zurechtzufinden? Nicht unbedingt, aber der Vergleich gibt dem Erlebnis eine Ebene mehr.
Sa, 20 Uhr, So., 18 Uhr, Theater HochX, Entenbachstraße 37 (U-Bahn Kolumbusplatz), 18/10 Euro, Tel.: 90 155 102 und AK